Der Tote aus dem MoorDie Mordwaffe fand man neben seinem Schädel
Der «Vittrup-Mann» lag 5000 Jahre im Moor und war vermutlich ein Menschenopfer. Jetzt haben Forscher sein Leben rekonstruiert und Erstaunliches gefunden.
Eigentlich wollten die Männer Torf stechen. Auf einer niedrig gelegenen Wiese nahe dem Dorf Vittrup im Nordwesten Dänemarks hoben sie eine Grube aus. Sie hatten bereits drei Meter tief gegraben, als die Torfstecher plötzlich auf Knochen stiessen. Daneben fanden sie einen Holzknüppel und etwas tiefer ein Keramikgefäss. Von Hand buddelten sie ihre Funde aus und informierten dann das lokale Museum. Es war das Jahr 1915, die archäologischen Methoden noch nicht so ausgereift wie heute.
Was die Torfstecher damals nicht ahnten: Sie waren auf die Überreste eines Mannes gestossen, der rund 5000 Jahre im Moor gelegen hatte und der heute als «Vittrup Man» bekannt ist. In einer neuen Studie hat ein dänisch-schwedisches Forscherteam nun das Leben und Sterben dieses Mannes mit den neusten wissenschaftlichen Methoden rekonstruiert und Erstaunliches herausgefunden.
Der Mann legte nicht nur weite Strecken zurück, sondern lebte auch in völlig unterschiedlichen Kulturen. Bis er schliesslich gewaltsam starb. Die Forscher vermuten, er könnte geopfert worden sein.
Erhalten ist nicht das ganze Skelett. Einen Teil der Knochen hat es im Lauf der Jahrtausende vermutlich weggespült. Aber den Schädel, Teile eines Beins und vor allem den Kiefer konnten die Forscher untersuchen. Im Kiefer sind noch 16 Zähne erhalten, was für die wissenschaftliche Analyse besonders wichtig ist.
Mit den aktuellsten Verfahren der Radiokarbondatierung hat das Team das Alter der Knochen festgelegt. Der Vittrup Man lebte zwischen 3345 und 3082 vor unserer Zeitrechnung. Seine Vorfahren waren Jäger und Sammler aus dem Norden Skandinaviens.
Stirbt ein Lebewesen, beginnen die Kohlenstoffisotope 14C im Körper zu zerfallen. Das tun sie sehr langsam. Misst man, wie weit dieser Prozess schon fortgeschritten ist, kann man den ungefähren Sterbezeitpunkt eines Menschen auch nach Tausenden von Jahren noch bestimmen.
Der Mann war vor 5000 Jahren erstaunlich mobil
Mit Genanalysen haben die Forscher zudem ein ungefähres Bild erhalten, wie der Mann ausgesehen hat. Ganz verlässlich sind die Resultate nicht, weil das Team für die Analysen auch auf moderne Datenbanken zurückgreifen musste. Aus verschiedenen Genvarianten lässt sich heute ableiten, welche Haar-, Augen- und Hautfarbe jemand vermutlich hat.
Der Vittrup Man war eher klein, hatte wie die meisten der damaligen Bewohner Skandinaviens dunkle Haare, blaue Augen und «eher dunkle Haut». Bei seinem gewaltsamen Tod war er vermutlich Anfang dreissig, vielleicht auch ein paar Jahre älter.
Seine Knochen haben an manchen Stellen winzige Löcher, was Anzeichen einer Infektion oder von Blutarmut sein kann. Zum Zeitpunkt des Todes war dieses Leiden aber nicht akut. Seine Zähne waren frei von Karies.
Überrascht hat die Autoren, wie mobil der Mann war. Wo jemand in welchem Alter gelebt hat, lässt sich anhand der Zähne und des Zahnsteins ziemlich genau rekonstruieren. Dazu analysieren die Forscher die Strontiumisotopen im Zahnschmelz.
Strontium ist ein natürliches Element, das wir mit der Nahrung aufnehmen. Weil je nach Region unterschiedliche Mengen von Strontium vorhanden sind, lässt sich so recht genau bestimmen, in welcher Lebensphase sich jemand wo aufgehalten hat. Auch die Kohlenstoff- und Stickstoffisotope in Knochen- und Zahnfragmenten massen die Forscher, was weitere Hinweise lieferte.
Seine Kindheit verbrachte der Vittrup Man irgendwo an der Nordküste des heutigen Norwegens, vermutlich nördlich des Polarkreises. Dort lebte er in einer Jäger-und-Sammler-Gemeinschaft und ernährte sich vor allem von Nahrung aus dem Meer.
«Die Menschen lebten in Gruppen an Fjorden, möglichst in der Nähe von Plätzen, wo sie gut fischen und Robben sowie Wale jagen konnten», sagt Hauptautor Anders Fischer, Archäologe an der Universität Göteborg. Es gibt sogar Hinweise auf gewisse Siedlungsstrukturen aus jener Zeit.
Er arbeitete als Händler oder wurde geraubt
Doch schon bald musste der Junge seine Heimat verlassen. Ob er mit Verwandten südlich zog oder geraubt wurde, lässt sich nicht mehr eruieren. Bevor er neun Jahre alt war, änderte sich seine Ernährung. Die Hauptquellen waren nicht mehr das Meer, sondern Süsswasser und der Boden.
Im Jugendalter folgte dann ein noch auffälligerer Wechsel. Der Vittrup Man zog nach Dänemark und lebte dort unter Menschen, die sesshaft waren und Ackerbau betrieben. Er ernährte sich von verschiedenen Körnern, Milchprodukten und Fleisch. Er war Teil der sogenannten Trichterbecherkultur, einer agrarischen Kultur der Jungsteinzeit im nördlichen Mitteleuropa.
Warum und wie der Mann in seinem Leben so weit reiste, lässt sich teilweise beantworten. Die Menschen bauten damals schon seetüchtige Boote, mit denen sie beispielsweise auch auf Waljagd gingen. Und sie waren, wie dieses Beispiel zeigt, viel mobiler, als wir uns das oftmals vorstellen.
Warum der Vittrup Man schliesslich aus dem Norden Norwegens bis nach Dänemark zog, ist schwierig zu beantworten. Es gibt zwei Theorien: Möglicherweise war er Händler. Schon für jene Zeit lässt sich nachweisen, dass die Menschen zwischen dem heutigen Dänemark und Norwegen regen Handel betrieben. Irgendwann liess er sich dann vermutlich bei seinen Handelspartnern nieder. Der zweite Erklärungsansatz ist weniger friedlich. Vielleicht wurde er als Jugendlicher geraubt und musste anschliessend in Dänemark als Sklave schuften.
Das Wasser galt als besondere Sphäre zwischen den Welten
Fest steht, dass sein Tod sehr gewaltsam war. Mit einem baseballschlägerähnlichen Holzknüppel schlug jemand dem Vittrup Man von hinten mindestens achtmal auf den Kopf. Sein Schädel zerbrach dabei in mehrere Teile. Es gibt keine Anzeichen von Heilung an den Knochenrändern. Er starb an diesen Verletzungen, die auch nicht zu überleben gewesen wären.
Die exzessive Gewalt bei der Tötung des Vittrup Man sehen die Forscher als möglichen Hinweis auf eine Opferung, da dies auch bei ähnlichen Fällen nachgewiesen wurde. Die als Lindow Man bekannte Moorleiche aus Grossbritannien gilt ebenfalls als Menschenopfer. Der Mann wurde erschlagen, erdrosselt und erstochen.
Die Vorstellung, Menschen höheren Mächten zu opfern, ist für uns heute grauenvoll und unverständlich. «Wir sollten diese Kulturen jedoch nicht mit unseren heutigen Massstäben beurteilen», sagt der Kulturgeograf Roy van Beek von der niederländischen Universität Wageningen, der letztes Jahr eine Übersichtsstudie zum Thema veröffentlicht hat.
Der Vittrup Man ist nicht die einzige prähistorische Moorleiche aus Dänemark. Mehr als 500 derartige Funde gibt es. Ein grosser Teil stammt aus der gleichen Zeit wie der Vittrup Man. Verschiedene Autoren haben auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die Toten im Rahmen von Fruchtbarkeitsriten geopfert wurden.
«Wasser und Feuchtgebiete hatten im prähistorischen Nordeuropa eine besondere Bedeutung», sagt van Beek. Die Menschen deponierten dort viele Dinge, von Schmuck über Waffen bis zu Tier- und eben auch Menschenopfern. Das Wasser galt als besondere Sphäre, wo sich die Welt der Menschen und jene der Geister und Götter berührten.
Natürlich könnte auch alles ganz anders gewesen sein. Auch jemand mit einer grossen Wut könnte heftig auf das Opfer eingeschlagen haben. «Die Absicht hinter einer Tötung lässt sich nur schwer aus archäologischen Funden herauslesen», sagt van Beek. Werde jemand wegen eines Raubs oder Konflikts getötet, hinterlasse das oftmals die gleichen Spuren.
Gewisse Hinweise gibt es jedoch, zumindest in andern Fällen, die Parallelen zum Vittrup Man aufweisen und unter besseren Bedingungen geborgen wurden. «Aus diesen Zusammenhängen kennen wir hölzerne Plattformen, die errichtet wurden und auf denen die Riten vermutlich stattfanden», sagt Archäologe Fischer.
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