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Gehen ohne Schuhe
Ist der Barfuss-Trend wirklich gesund?

Mature man walking on tree trunk
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Sand, Rasen, Holzdielen, Waldboden, Pulverschnee oder doch die sonnenwarmen Rundkiesel am See? So richtig entscheiden, welchen Untergrund sie am liebsten mag, kann sich Eva Lockstädt nicht. Seit acht Jahren läuft sie überwiegend barfuss. Jeden Tag, überall und – um die häufigste Frage ihrer Mitmenschen gleich vorwegzunehmen – ja, oft auch im Winter. «Ich mag einfach das Gefühl, wenn sich jeder Schritt anders anfühlt und man mit allen Sinnen laufen kann», sagt sie, «dann spüre ich mich und die Welt um mich herum besser.»

Damit praktiziert Eva Lockstädt in puristischer Form, was immer populärer wird: Barfusslaufen. Das soll die Muskulatur stärken, den Gang verbessern, die Haltung aufrichten, Verletzungen vorbeugen und sogar gegen Gelenkschmerzen helfen. Auch die heute 56-Jährige ist aus gesundheitlichen Gründen zur Barfussläuferin geworden, Rückenprobleme und vorzeitiger Hüftverschleiss machten ihr zu schaffen: «Ich habe schon früh gemerkt, dass Barfusslaufen meine Beschwerden bessert. Aber ich war lange zu ängstlich und ungeduldig, um das konsequent durchzuziehen.»

Tatsächlich gehört einiges dazu, um auf Fuss- statt Gummisohlen durchs Leben zu gehen. Wehe Waden, Abschürfungen zwischen den Zehen, schmerzende Fersen, zwickende Knie – gerade zu Beginn meckert der Körper über das Ungewohnte. Von den Blicken und Fragen der anderen ganz zu schweigen: Ohne Schuhe durch den Supermarkt, die U-Bahn oder ein Restaurant laufen? «Dafür braucht man mehr als Hornhaut an den Füssen», sagt Lockstädt.

Menschen haben sich an das Tragen von Schuhen angepasst

«So radikal muss es auch gar nicht sein, um von den Vorteilen des Barfusslaufens zu profitieren», beruhigt Christina Stukenborg-Colsman. Die Leiterin des Departments für Fuss- und Sprunggelenkschirurgie in der Orthopädischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover ist keine Freundin des Extremen. Auch wenn der Verzicht auf Schuhe in Einzelfällen gut funktioniere, sei er für die meisten Menschen weder empfehlenswert noch praktikabel. Schon wegen unserer urbanen Umgebung, in der hartes Pflaster, Glasscherben, spitze Steinchen, Dreck und aufgeheizter oder klirrend kalter Asphalt lauern. «Es gibt gute Gründe, dass Menschen sich schon früh in der Geschichte um den Schutz ihrer Füsse bemüht haben», sagt die Ärztin.

Wahrscheinlich haben Menschen schon vor 40’000 Jahren Schuhwerk getragen. Das legt ein Zehenvergleich von prähistorischen Skeletten und modernen Menschen nahe. Auch Höhlenmalereien und Fundstücke stützen die Annahme, dass uns Schuhe schon sehr lange begleiten. Ötzi etwa trug ein Modell aus Leder mit Bastfasern und Heufütterung. Schuhe haben Spuren in unserer Evolution hinterlassen: Untersuchungen an menschlichen Knochen zeigen zum Beispiel, dass Länge und Dichte von Zehenknochen im Laufe der Zeit abgenommen haben. Anthropologen führen das darauf zurück, dass sie beim Laufen in Schuhen weniger stark belastet werden. «Man muss also immer ein bisschen aufpassen, wenn Barfussgehen als das Natürlichste der Welt dargestellt wird», sagt Stukenborg-Colsman. Zumal es etwa für Menschen mit Diabetes gefährlich sein kann.

«Schuhe beeinflussen zwar den Gang, verursachen deshalb aber nicht unbedingt Beschwerden.»

Christina Stukenborg-Colsman, Orthopädin

Eine Brücke zwischen Ursprung und Moderne sind sogenannte Barfuss- oder Minimalschuhe. Sie machen Barfusslaufen möglich, ohne barfuss zu sein. «Das ist für viele ein guter Kompromiss», urteilt die Medizinerin. Barfussschuhe zeichnen sich durch ihr geringes Gewicht, eine dünne, flache Sohle und grosse Flexibilität aus – man sollte sie in alle Richtungen rollen und knautschen können. Sie schützen die Haut vor Verletzungen, bieten dem Fuss sonst aber keinerlei Unterstützung. Wer sie trägt, verdonnert faule Füsse zur Aktivität: Ohne Bettung, Dämpfung und Stütze müssen viel mehr Muskeln arbeiten. Das bringt Schwung in ein komplexes System aus 26 Knochen, mehr als 30 Gelenken, über 100 Bändern und rund 75’000 Nervenenden.

Studien zeigen, dass Barfussschuhe das Fussgewölbe stärken, die Durchblutung verbessern, Wahrnehmung und Balance schulen und den Gang verändern können – vom Fersen- hin zum Ballengang, der als schonender gilt. Trotzdem warnt Stukenborg-Colsman vor übertriebenen Erwartungen: «Viele Fussprobleme kann man nicht einfach weglaufen. Gerade bei Fehlstellungen und Schmerzen sollte man erst in eine Arztpraxis und dann in den Schuhladen gehen.» Im Gegensatz zu dem US-amerikanischen Evolutionsbiologen Daniel Lieberman, der 2010 den Hype ums Barfusslaufen mit einer grossen Laufstudie lostrat, glaubt sie nicht, dass die meisten Fussprobleme ihren Ursprung im modernen Schuhwerk haben: «Schuhe beeinflussen zwar den Gang, verursachen deshalb aber nicht unbedingt Beschwerden – zumindest, wenn sie gut passen und nicht zu eng, schwer oder hoch sind.» Oft seien eher Übergewicht, Bewegungsmangel und der Schreibtischjob ein Problem für den Körper und die Füsse, die ihn tragen.

Hierzulande klagen rund 40 Prozent der Erwachsenen über Fussschmerzen. Sie plagen sich zum Beispiel mit Senk-, Spreiz-, Knick-, Hohl-, Sichel-, Spitz-, Klump- oder Plattfüssen herum, leiden unter Ballen-, Hammer- oder Krallenzehen, Fersenspornen, Empfindungsstörungen oder überreizten Achillessehnen. «Barfussschuhe können in vielen Fällen helfen», sagt die auf Füsse spezialisierte Physiotherapeutin Peggy Weidauer. Man müsse aber differenziert hinsehen, weil viele Faktoren eine Rolle spielten: Alter, Vorerkrankungen, Beschwerden und Belastung zum Beispiel. «Bei einem beginnenden Ballenzeh etwa kann Barfusslaufen Schlimmeres verhindern. Ist die Deformation aber schon stark ausgeprägt, kann es alles noch schlimmer machen», erklärt sie.

Klar ist nur: Vor allem Kinder sollten viel barfuss laufen

So viele positive Erfahrungsberichte von Barfussfans es auch gibt, wissenschaftlich belegen lassen sich die meisten Versprechungen nicht. Manches wurde noch gar nicht erforscht, vielen Studien mangelt es an Aussagekraft, andere liefern widersprüchliche Ergebnisse oder sind von der Industrie gesponsert. Vieles ist deshalb noch unklar: Schützen Barfussschuhe langfristig vor Deformationen an den Füssen? Profitieren Kinder von Barfussschuhen? Sind Zehenschuhe besser als geschlossene Modelle, die an flache Sneaker erinnern? Nützen sie mehr als Fussgymnastik oder orthopädische Einlagen?

Einig sind sich Fachleute eigentlich nur darin, dass vor allem Kinder bis zum 14. Lebensjahr möglichst viel barfuss laufen sollten, damit sich das Fussgewölbe gesund ausbildet. Und darin, dass Erwachsene – egal ob Leistungssportler oder Couchpotato – eine Umstellung mit Bedacht angehen sollten. «Anfangs reichen zehn Minuten am Tag, das kann man dann über mehrere Wochen langsam steigern», rät Physiotherapeutin Weidauer. Wechselt man zu schnell auf Barfussschuhe, steigt das Verletzungsrisiko etwa für Überlastungen, Gelenkschmerzen oder Knochenödeme an. Wie sich das Laufen in Barfussschuhen langfristig auf das Verletzungsrisiko auswirkt, ist umstritten. Eine Studie aus den USA stellte 2016 keine statistisch relevanten Unterschiede bei den Verletzungsraten fest, eine andere kam 2012 zu dem Ergebnis, dass sich geübte Barfussläufer seltener verletzen. «Nach aktuellem Forschungsstand lässt sich das nicht seriös beantworten, dafür braucht es noch mehr langfristige Untersuchungen mit grösseren Kohorten», sagt Weidauer.

Wer keine grösseren gesundheitlichen Probleme hat, kann Barfussschuhe getrost ausprobieren. Mediziner raten aber von extremen Belastungen ab und empfehlen eine schonende Umstellung, die schon mal ein halbes Jahr dauern kann. Das ist auch der wichtigste Rat von Barfussläuferin Eva Lockstädt: «Buchstäblich Schritt für Schritt umstellen.» Wenn dabei Probleme auftreten, kann die Ursache übrigens auch anderswo liegen. Füsse sind schliesslich nur das unterste Glied einer ganzen Bewegungskette, die von den Füssen über Knie und Hüfte bis hin zum Nacken reicht. «Wenn da etwas nicht passt, müssen das oft die Füsse kompensieren. Eine zu schwache Hüftmuskulatur zum Beispiel», sagt Weidauer. So bringen Barfussschuhe manchmal bisher unentdeckte Schwachstellen zum Vorschein – und damit eine Chance gegenzusteuern.