Multiple Sklerose, Alzheimer & Co.Warum Europäer für manche Krankheiten anfällig sind
Vor 5000 Jahren brachten eingewanderte Hirten der Jamnaja-Kultur die Neigung zu bestimmten Krankheiten nach Europa. In der Evolution setzten sich Gene durch, die uns heute krank machen.
Multiple Sklerose (MS) stellt die Wissenschaft noch immer vor Rätsel. Bei der Autoimmunerkrankung greift das körpereigene Abwehrsystem Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark an. Die genaue Ursache der Erkrankung ist unklar, auch eine Heilung gibt es bislang nicht. Weltweit leben mehr als 2,5 Millionen Menschen mit MS.
Das Risiko, zu erkranken, ist ungleich verteilt: In Europa zum Beispiel kommt MS im Norden häufiger vor als im Süden. Nun haben Forschende für diese Auffälligkeit eine Erklärung gefunden – und das könnte dabei helfen, nicht nur MS besser zu verstehen, sondern auch andere Leiden wie Alzheimer, Diabetes und psychische Erkrankungen wie Angststörungen.
Die Erklärung wirft zudem ein neues Licht auf die Evolution der heutigen Europäerinnen und Europäer. Und sie zeigt, welchen langen Schatten es werfen kann, wenn Menschen ihre Lebensweise verändern wie einst während der Anfänge des Ackerbaus. Dass MS im Norden häufiger vorkommt als im Süden, führen die Forschenden auf Migrationsbewegungen in der Vorzeit zurück.
Ein erhöhtes Risiko, an MS zu erkranken, wird vererbt. Deshalb hat ein internationales Team um den dänischen Evolutionsgenetiker Eske Willerslev von der Universität Kopenhagen Gendaten von mehr als 1500 Menschen aus der Mittel- und Jungsteinzeit analysiert, die in Europa und in der eurasischen Steppe lebten.
Wie die Gruppe im Wissenschaftsmagazin «Nature» berichtet, ist die Neigung zu MS demnach ein Erbe von Hirten aus der pontisch-kaspischen Steppe, die vor etwa 5000 Jahren Richtung Westen gewandert sind. Diese Angehörigen der sogenannten Jamnaja-Kultur haben ihre genetischen Spuren vor allem im Norden und im Nordwesten Europas hinterlassen – deswegen komme MS dort heute häufiger vor als im Süden.
Wir entstanden ausserhalb Europas
Und die Erkenntnisse gehen darüber hinaus. Die Studie ist Teil eines grossen Projekts, an dem sich mehr als 170 Forschende aus verschiedenen Ländern beteiligen. In «Nature» erscheinen aktuell neben der Studie zu multipler Sklerose drei weitere Fachartikel der Gruppe, und das seien nur die ersten Arbeiten, sagte Projektleiter Eske Willerslev am Dienstagnachmittag vor Journalisten im Globe Institute der Universität Kopenhagen.
In den vergangenen Jahren hätten sie eine Datenbank mit altem Erbgut von fast 5000 Individuen aus Europa und Asien aufgebaut. Die Genome stammen hauptsächlich aus der Zeit vom Mittelalter bis zurück in die Mittelsteinzeit, die in Mitteleuropa vor knapp 12’000 Jahren begann.
Für die ersten vier Studien haben die Forscher auf das Erbgut von 1600 Individuen zurückgegriffen und sie mit Daten in der UK Biobank verglichen, einer biomedizinischen Datenbank. So rekonstruierten sie in Grundzügen, was in den vergangenen Jahrtausenden mit den Europäerinnen und Europäern geschehen ist.
Dabei entschlüsselten sie die Herkunft von Genen, die anfällig für bestimmte Krankheiten machen. Danach fragten sie, warum sich dieses doch krank machende Erbgut in der Evolution des Menschen durchsetzen konnte. Ihre Erkenntnisse hätten sie selbst erstaunt, hiess es am Dienstag in Kopenhagen.
Für ihn persönlich sei die erste Überraschung bereits gewesen, wie sehr nicht nur die Neigung zu multipler Sklerose, sondern auch das übrige Erbgut der heutigen Europäer ein Produkt von Migration sei, sagte Willerslev. «Wer wir sind, hat sich evolutionär ausserhalb Europas entwickelt.» Zuwanderer hätten die Gene auf den Kontinent gebracht. Er selbst blicke nun anders sowohl auf Europa als auch auf sich als Europäer.
Die Bevölkerung Europas ist genetisch das Produkt aus drei Migrationswellen. Vor etwa 45’000 Jahren erreichten Jäger und Sammler der Art Homo sapiens den Kontinent und vermischten sich teils mit den zuvor dort heimischen Neandertalern. Bestimmte Gene von diesen, die etwa die Haarfarbe oder die Nasenform beeinflussen, stecken noch heute in vielen Europäern.
Beginnend vor etwa 11’000 Jahren, in der Jungsteinzeit, wanderten dann nach und nach Ackerbauern aus Anatolien und dem Nahen Osten ein. Ein direkter Nachfahre von diesen war einer Genanalyse zufolge die berühmte Gletschermumie Ötzi. Vor etwa 5000 Jahren kamen schliesslich Hirten aus der pontischen Steppe. Dabei kam es zu einigen Verwerfungen, deshalb lässt sich das Erbgut der Europäer von heute je nach Region unterschiedlich stark auf einzelne Zuwanderergruppen zurückführen.
Mancherorts verschwanden die Jägerinnen und Sammler
Wie zwei Studien nachzeichnen, verlief insbesondere die Ausbreitung der Ackerbauern nicht gleichmässig. Die Zuwanderer vermischten sich vor allem in Südeuropa mit den dort bereits ansässigen Jägern und Sammlern. Ihre gemeinsamen Nachfahren zogen später nach Norden. Genetische Anzeichen dafür, dass sie sich auch dort mit den vorherigen Bewohnern durchmischt hätten, gibt es aber kaum.
Die Gene der dortigen Jägerinnen und Sammler sind vielmehr weitgehend verschwunden. In manchen Regionen sogar komplett, etwa auf den Britischen Inseln oder im heutigen Dänemark, wie eine Gruppe um den Evolutionsgenetiker Morten Allentoft von der Universität Kopenhagen in einer der «Nature»-Studien zeigt. Unklar ist, ob die vorherigen Bewohner gewaltsam verdrängt wurden oder mit eingeschleppten Krankheiten nicht zurechtkamen.
Östlich einer Linie vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer konnten sich die vorherigen Bewohner halten. Die Gründe dafür sind unklar. Womöglich seien die Klimabedingungen im Osten für die landwirtschaftlichen Methoden aus dem Nahen Osten schlecht geeignet gewesen, sodass die Bauern im Westen blieben, mutmasst ein Team um Allentoft in einer weiteren Arbeit in «Nature». Im Ergebnis setzte sich jedenfalls westlich der gedachten Linie Ackerbau und Viehzucht durch, während im Osten für weitere drei Jahrtausende Jäger und Sammler lebten.
Das änderte sich erst vor etwa 5000 Jahren, als Hirtengruppen der Jamnaja-Kultur nach Westen zogen und dort wiederum die Bauern verdrängten. Diesen Genfluss hatten kürzlich Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig in der Fachzeitschrift «Nature Genetics» beschrieben. Entscheidend ist: Weil die Hirten anders lebten als die Bauern im Westen, brachten sie ein an andere Bedingungen angepasstes Erbgut mit.
Die Gene zum Beispiel, die anfälliger für multiple Sklerose machen, seien nicht einfach nur schlecht, erklärt Lars Fugger, Arzt am John Radcliffe Hospital der Universität Oxford. Für die Hirten der östlichen Steppe hätten sie im Gegenteil einen evolutionären Vorteil bedeutet. Denn dieselben Genvarianten, die Forscher mit einer höheren Neigung zu MS verbinden, ermöglichen den Analysen zufolge parallel einen besseren Schutz vor einigen Krankheitserregern und Parasiten.
Früher brachten die Gene Vorteile
In Zeiten, in denen viele Menschen noch im Kindesalter an Infektionen gestorben seien, und besonders bei Menschen, die eng mit ihren Tieren zusammengelebt hätten, habe eine höhere Widerstandsfähigkeit gegen solche Keime einen enormen Vorteil bedeutet, sagt die Immunologin Astrid Iversen von der Universität Oxford.
Deshalb hätten sich diese Genvarianten unter den Jamnaja-Hirten durchgesetzt. Heute allerdings fielen die damaligen Vorteile wegen Fortschritten in Medizin und Hygiene weniger ins Gewicht. Dafür seien die Nachteile dieser Gene präsenter: in diesem Fall eine Neigung zu multipler Sklerose.
Doch auch die vom Jamnaja-Erbgut verdrängten Genvarianten hatten den Analysen zufolge Nachteile. Erbanlagen der zuvor im Westen Europas lebenden Jäger und Sammler könnten diese anfälliger gemacht haben für rheumatoide Arthritis.
Wie ein Team um den Populationsgenetiker Evan Irving-Pease von der Universität Kopenhagen in «Nature» berichtet, waren derweil unter den Jägern und Sammlern in Osteuropa Genvarianten verbreitet, die mit einem höheren Risiko für Typ-2-Diabetes und für Alzheimer verknüpft werden. Und im Erbgut der Ackerbauern, die aus dem Nahen und Mittleren Osten einwanderten, finde sich ein erhöhtes Risiko für stimmungsbedingte Erkrankungen, etwa für Angststörungen.
Im Gegenzug boten bestimmte Genvarianten Vorteile zum Beispiel bei einer pflanzenlastigeren Ernährung. Und Gene, die einerseits anfälliger für Alzheimer machen, hätten andererseits unter anderem den Vorteil gehabt, Schwangerschaften zu erleichtern, so Iversen. Auch das sei einst ein riesiger Vorteil gewesen.
Die Forscher wollen in Zukunft nach den genetischen Hintergründen anderer genetisch bedingter Erkrankungen suchen, etwa von Parkinson oder auch von Schizophrenie. Für die medizinische Praxis ist damit zwar unmittelbar noch nichts gewonnen. Doch die nun publizierten Studien zeigten, wie man dazu alte Erbinformationen nutzen könne, sagt Eske Willerslev.
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