Balzan-Preisträger im PorträtDer Abenteurer, der die ältesten DNA-Spuren der Welt entdeckte
Der dänische Evolutionsgenetiker Eske Willerslev fand in Grönland zwei Millionen Jahre alte DNA. Vor seiner Karriere als Forscher schlug er sich auch als Elchjäger in Sibirien durch.

Bereits als Kind folgte Eske Willerslev dem Ruf der Wildnis. Im Alter von 13 Jahren machte er sich zusammen mit seinem Zwillingsbruder Rane auf den Weg, um in den Ferien die grosse Freiheit zu entdecken, abseits jeglicher Zivilisation, in den geradezu unendlichen Wäldern des arktischen Gebiets von Schwedisch-Lappland. Wie lange würden sie ohne irgendwelche Erwachsenen im hohen Norden durchhalten?
Es war das erste echte Survival-Camp der Willerslevs. «Am Anfang waren noch zwei Freunde dabei, doch denen war es schnell zu gefährlich, und sie kehrten um», sagt der heutige Direktor vom Kompetenzzentrum für Geogenetik an der Universität Kopenhagen und diesjährige Balzan-Preisträger bei einem Treffen in Bern. Auch er und sein Bruder hätten damals Angst gehabt, weil es auch Bären in der Gegend gegeben hätte.
Grenzerfahrungen mit dem Zwillingsbruder
Aufgewachsen in den nördlichen Suburbs von Kopenhagen, forderte Eske Willerslev gemeinsam mit seinem genetischen Doppelgänger, der rund zwei Minuten jünger ist als er, immer wieder das Schicksal heraus. Wie überlebt man die extremen Bedingungen in einer der lebensfeindlichsten Regionen der Welt, wo kein Kühlschrank oder Supermarkt um die nächste Ecke ist, sondern Hunger und Kälte den Menschen stark zusetzen und den Alltag beherrschen, wo nur die zähesten Tiere es überhaupt schaffen, den gnadenlos langen Winter mit Minustemperaturen von mehr als 60 Grad Celsius durchzustehen?
Mit 19 gingen die beiden erstmals für mehrere Wochen im Frühling 1991 auf eine selbst organisierte Kanufahrt durch verschiedene Flusssysteme im Nordosten Sibiriens, später folgten noch weitere Expeditionen in den Jahren 1992 und 1993. Immer wieder von neuem äusserst riskante Situationen. Grenzerfahrungen pur.
Oft dachte er, das sei jetzt das Ende
«Die Erlebnisse in dieser unwirtlichen Umgebung sind mit nichts zu vergleichen und haben mich für immer geprägt», sagt Willerslev. Es sei brutal gewesen, als ihre Hunde von Wölfen gefressen wurden. Man brauche mehrere Schutzengel gleichzeitig, um nicht tot irgendwo im sibirischen Frost der Taiga oder Tundra zu liegen. Oft hätte er gedacht, dass es jetzt das Ende sei, es nicht mehr weitergehe. Fertig, Schluss, alles vorbei.

Im Winter 1993, als er ohne seinen Bruder in Sibirien unterwegs war, um für sechs Monate mit Einheimischen auf die Jagd zu gehen, mussten sie mehrere Wochen in einer Hütte mitten im Wald im Dunkeln ausharren, da es kein Öl für die Lampe mehr gab. Die Kälte zehrte so sehr an seinen Kräften, dass diese ihn vor Erschöpfung fast willenlos machte.
Schliesslich gab es am Schluss auch nichts mehr zu essen, kein einziges Stück Fisch, kein Elchfleisch, keinen Vogel, sondern nur noch eine Tasse heisses Wasser aus geschmolzenem Schnee. Im letzten Moment wurde Willerslev zusammen mit seinen Kollegen noch gerettet. Der Helikopterpilot erschien nicht zur ursprünglich verabredeten Zeit, da er inzwischen pleitegegangen war.
Er wagt Dinge, die als unmöglich gelten
Heute ist der dänische Biologe und Evolutionsgenetiker ein renommierter Wissenschaftler, der 2017 sogar den dänischen Verdienstorden «Dannebrogorden» von der Königin Margrethe II. überreicht bekam. Denn in einem Fachgebiet fällt er oft mit ungewöhnlichen Ideen und einem ungebrochenen Ehrgeiz auf, weil er Dinge wagt, die man eigentlich für unmöglich hält. Mit grossem Erfolg: Seine Studien schafften es auf die Titelseite der renommierten Fachzeitschrift «Nature».
Mitte November wurde der 52-jährige Forscher im Rathaus in Bern unter anderem für seine Vorreiterrolle für die Gewinnung uralter DNA direkt aus Umweltproben wie etwa einem gefrorenen Permafrostboden mit dem Balzan-Preis ausgezeichnet, der mit 750’000 Franken dotiert ist. Eske Willerslev entdeckte tief im eisigen Norden Grönlands in den Sedimentproben aus Ton und Quarz die bisher ältesten Erbgutspuren überhaupt, die aus einer Zeit vor rund zwei Millionen Jahren stammen. Der bisherige Rekord für die älteste sequenzierte DNA war mit circa einer Million Jahren fast halb so alt und stammte von einem im sibirischen Permafrost eingefrorenen Mammut.

Willerslev rekonstruierte in mühsamer Detailarbeit und mit modernster Technologie aus den winzigen, uralten DNA-Schnipseln verschiedener Lebewesen letztlich ein gesamtes Ökosystem. Demnach war der Norden Grönlands, der auch als arktische Wüste bezeichnet wird, nicht immer so karg, wie wir ihn heute kennen. Rentiere, Hasen, Lemminge und sogar Mastodons streiften dort einst durch grüne Wälder aus Pappeln, Birken, Thujabäume und das Unterholz.
Inzwischen sei es jedoch eine steinige Gegend, in der alles Leben ums Überleben kämpfe. Dies gelte auch für die Forschenden, die dort unter schwierigsten Voraussetzungen für eineinhalb Monate nach geeignetem Probenmaterial suchten.
Die Entzauberung der Wikinger
Der unkonventionelle Professor von der Universität in Kopenhagen sorgte auch bereits vor drei Jahren mit der DNA-Studie von 442 Skeletten zur Herkunft der Wikinger für grosses Aufsehen. Demnach entsprachen die angeblich vor nichts zurückschreckenden Krieger, die zwischen 750 und 1050 nach Christus die Küsten Nordeuropas in hölzernen Schlachtschiffen plünderten, überhaupt nicht dem sich hartnäckig verbreiteten Mythos, dass sie eine eigene ethnische oder regionale Gruppe von Menschen gewesen seien.
«Die genetische Vielfalt der skandinavischen Seeleute war sehr gross», sagt Willerslev. Die Wikinger seien gar nicht alle blond gewesen, sondern eher ein gemischter Haufen von überall her. Doch nicht alle Leute hatten Freude daran, dass das weitverbreitete Stereotyp auf einmal entzaubert wurde. Er habe sogar eine Todesdrohung erhalten und eine Anzeige bei der Polizei machen müssen, sagt der Wissenschaftler rückblickend.

Willerslevs neuestes Projekt ist eine gigantische Genom-Datenbank von insgesamt 5000 Individuen aus der Altsteinzeit vor etwa 10’000 Jahren bis 1840 nach Christus. Die alte DNA wird aus Funden menschlicher Knochen und Zähnen gewonnen und danach auf besondere Merkmale analysiert. «Ziel ist es, neue Erkenntnisse über die Verbreitung von Krankheiten wie Alzheimer, Schizophrenie oder multiple Sklerose im Laufe der Evolution zu bekommen», sagt Willerslev. Inzwischen fehlen für die geplanten 5000 Genome des Archivs nur noch ein paar Dutzend.
Dass Eske Willerslev – wie auch sein Zwillingsbruder, der Anthropologe geworden ist – mit grosser Leidenschaft in der Vergangenheit wühlt, das hat er offenbar von seinem Vater geerbt, einem Historiker. Ihm war es damals wichtig, dass seine Söhne Eske und Rane auch Mutproben bestanden, wie etwa draussen im Eiswasser zu baden. Seine eigenen Kinder erziehe er aber nicht so, sagt der renommierte Forscher lachend. Er sei eher ein softer Vater.
Mit der blutbefleckten Jägerhose an die Uni
Wie man jedoch einen Elch erlegt, um zu überleben, die von der Pelzindustrie begehrten Zobel fängt, Bäume bei kältesten Temperaturen in der Taiga mit der Axt fällt oder auch noch unter einer dicken Eisschicht erfolgreich Fische aus dem See angelt, hat er alles in Sibirien gelernt. Die sich zuerst noch romantisch anhörende Expedition stellte sich im Nachhinein als ein leichtsinniges Unternehmen heraus und war ein permanenter Kampf in Extremsituationen zwischen Leben und Tod.

«Als ich 1994 mit der traditionellen Fellkleidung der Jukagiren am Flughafen in Kopenhagen landete, fragte man mich, ob ich ein Däne sei», sagt Willerslev. Er habe damals ein halbes Jahr gebraucht, um seine traumatischen Erfahrungen und Ängste in der sibirischen Einöde zu verarbeiten. Am Anfang habe er nach seiner Rückkehr nicht schlafen können und komische Sachen gemacht, indem er zum Beispiel mit seiner Jägerhose, die noch Blutflecken gehabt habe, an die Universität gegangen sei. Dennoch möchte er diese Zeit nicht missen.
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