Afghanische FlüchtlingeViele Afghanen hoffen vergeblich auf ein humanitäres Visum
Im laufenden Jahr haben bisher 54 besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen ein humanitäres Visum erhalten. Andere Länder seien grosszügiger, sagen Kritiker.
«Abwarten»: So lautete die Botschaft von Justizministerin Karin Keller-Sutter vor einem Jahr, als die Taliban in Afghanistan die Macht übernahmen. Die Aufnahme grösserer Gruppen von Flüchtlingen sei zurzeit nicht möglich, der Bedarf stehe noch nicht fest, man müsse die weitere Entwicklung abwarten.
Seither hat sich die Menschenrechtslage in Afghanistan dramatisch verschlechtert. Laut einem UNO-Bericht wurden 160 Sicherheitskräfte und Mitarbeitende der ehemaligen Regierung getötet. 173 Journalisten und 65 Menschenrechtsaktivisten wurden angegriffen, viele von ihnen misshandelt oder getötet. Schon mehr als 700 Zivilisten sind ums Leben gekommen.
Den Schweizer Behörden entgeht diese Entwicklung nicht: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat in einem Bericht Tötungen aufgelistet und die Risiken für verschiedene Gruppen analysiert – mit düsterem Fazit. Doch was tut die Schweiz?
«Die Politik ist sehr zurückhaltend», sagt Nasir Andisha, der afghanische Botschafter in der Schweiz, der noch unter der alten Regierung entsandt wurde. «Ich bin enttäuscht vom Vorgehen der Schweiz.» Das Land hätte die Möglichkeit, grosszügiger zu sein. Die ukrainischen Flüchtlinge habe die Schweiz glücklicherweise willkommen geheissen, sagt Andisha. Für gefährdete Afghaninnen und Afghanen dagegen engagierten sich Deutschland, Frankreich und Italien viel stärker als die Schweiz. Frankreich etwa habe zahlreiche Kultur- und Medienschaffende aufgenommen.
Deutschland lanciert Notfallprogramm
Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock kündigte im Juni an, sie wolle das Schutzprogramm für gefährdete Afghanen beschleunigen. Tausende sollen während der Sommermonate über Pakistan ausreisen und nach Deutschland gebracht werden – frühere Angestellte deutscher Institutionen, politische Aktivistinnen, Künstler. Zwar stockt das Programm momentan, doch allein im Juli wurden über 1000 Personen nach Deutschland gebracht.
Die Schweiz hat ihre lokalen Angestellten ebenfalls evakuiert. Humanitäre Visa erteile sie jedoch kaum, sagt Andisha. Letzten Herbst konnte eine Gruppe afghanischer Radsportlerinnen mit einem humanitären Visum einreisen. Im ganzen Jahr 2021 stellte die Schweiz aber nur 37 humanitäre Visa an afghanische Staatsbürger aus. In über 400 Fällen verweigerte sie ein solches Visum. In der ersten Hälfte des laufenden Jahres erhielten 54 Afghaninnen und Afghanen ein humanitäres Visum, wie das SEM auf Anfrage mitteilt. In über 1000 Fällen wurde das Visum verweigert.
Gemäss der Visa-Verordnung kann die Schweiz Personen ein humanitäres Visum erteilen, wenn sie im Herkunftsstaat «unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet» sind. Allerdings werden in der Praxis weitere Kriterien berücksichtigt, darunter enge Beziehungen zur Schweiz. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Praxis bestätigt. Faktisch führt sie dazu, dass ein humanitäres Visum in den meisten Fällen nicht infrage kommt.
Versucht hat es zum Beispiel die 21-jährige Studentin und TV-Journalistin Maryam. Sie dokumentierte, wie sie Drohungen via Whatsapp erhielt, nachdem sie Talibanführer kritisch interviewt und sich öffentlich zur Verhüllungspflicht geäussert hatte. Maryam flüchtete ins benachbarte Ausland. Weil sie Angst hat, dass die Taliban sie dort aufspüren könnten, beantragte sie ein humanitäres Visum. Die Schweizer Botschaft teilte ihr umgehend mit, die Erfolgschancen seien äusserst gering. Maryam schickte weitere Belege – vergeblich. Vor kurzem erhielt sie einen negativen Entscheid. Die Begründung: kein enger Bezug zur Schweiz.
Rotes Kreuz stellt Beratungsdienst ein
Wegen der restriktiven Praxis hat das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) seinen Beratungsdienst für humanitäre Visa Ende letzten Jahres eingestellt. Es beschloss, sich auf Familienzusammenführungen zu konzentrieren. Von den Tausenden von Anfragen, die das SRK nach der Machtübernahme der Taliban erhalten hatte, führte kaum eine zu einem humanitären Visum. Aus Sicht des SRK mangelt es an politischem Willen.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) fordert ebenfalls, dass sich die Schweiz stärker engagiert. Unter anderem schlägt sie ein zusätzliches Resettlement-Kontingent für humanitäre Notlagen vor. Über das normale Kontingent sind seit August 2021 insgesamt 268 afghanische Staatsangehörige in die Schweiz eingereist. Bei einem grossen Teil handelte es sich um die lokalen Angestellten und deren Familien.
Daneben besteht – für jene, die es schaffen – die Möglichkeit, in der Schweiz ein Asylgesuch zu stellen. Afghanistan gehört seit Jahren zu den wichtigsten Herkunftsländern. Im Jahr 2021 stellten rund 3000 Afghaninnen und Afghanen ein Asylgesuch, im laufenden Jahr waren es bisher rund 2000. Laut dem SEM handelt es sich vor allem um Personen, die sich schon länger in Europa aufhielten und nun weiterziehen. Diese Weiterwanderung setzte bereits vor der Machtübernahme der Taliban ein.
Derweil sind in Afghanistan Hunderttausende intern vertrieben. Manche verstecken sich, viele können das Land nicht verlassen, weil ihnen die nötigen Papiere fehlen. Botschafter Andisha erreichen immer wieder Hilfsanfragen. Doch die Botschaft, die nicht mit den Taliban kooperiert und aus finanziellen Gründen ihre Belegschaft auf ein Minimum reduzieren musste, kann meist nicht helfen.
Mangels Passbüchlein ist sie auch nicht mehr in der Lage, Pässe auszustellen. Das Problem betrifft neben Afghanen in der Schweiz Personen in Afghanistan, für die es zu gefährlich ist, in Kabul einen Pass zu beantragen. Botschafter Andisha würde sich wünschen, dass die Schweizer Behörden für solche Personen Reisepapiere ausstellen. Laut dem SEM ist das jedoch nur in Ausnahmefällen möglich, weil es sich nicht um schriftenlose Personen handelt.
Zumindest etwas könne er aber tun, sagt Nasir Andisha: Er werde sich weiterhin für Menschenrechte einsetzen, auf die Situation in seinem Heimatland aufmerksam machen – und um Unterstützung bitten.
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