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Legendäre Veuve Clicquot
Wie eine junge Witwe die Welt des Champagners eroberte

Beharrlich und pionierhaft: Haley Bennett als Witwe Clicquot im gleichnamigen Film, der demnächst in die Schweizer Kinos kommt.
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Es war ein Zufall, der die Autorin Tilar Mazzeo auf die Geschichte der französischen Champagnerwitwe aufmerksam machte: In einer Kiste Veuve Clicquot La Grande Dame 1996 fand sie eine winzige Broschüre mit der Kurzbiografie einer aussergewöhnlichen Frau, «… die mit nicht einmal dreissig Jahren ihren Mann verlor und mit einem kleinen Kind zurückblieb, die mit Tatkraft und Talent aus einer noch jungen familieneigenen Weinhandlung eines der berühmtesten Champagnerhäuser der Welt machte. Das, so dachte ich, ist eine Frau, die keine Kompromisse macht», notiert die Autorin.

Die Rede ist von Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin, Begründerin des Champagnerhauses Veuve Clicquot.

Portrait of Madame Clicquot, née Ponsardin (1777-1866) with her Daughter, Between 1851 and 1860. Found in the Collection of Château de Boursault. Artist  Cogniet, Léon (1794-1880). (Photo by Fine Art Images/Heritage Images via Getty Images)

Die Witwe Clicquot war eine der bekanntesten und reichsten Frauen ihrer Zeit. Sie hat dazu beigetragen, dass der Schaumwein aus dem Nordosten Frankreichs heute auf der ganzen Welt bekannt ist. Trotzdem kennt fast niemand die Geschichte hinter dem Namen Veuve Clicquot.

Das könnte sich bald ändern. Nach ihrem Zufallsfund in einer Kiste Jahrgangschampagner begann die amerikanische Kulturhistorikerin Tilar Mazzeo zu recherchieren. Sie durchforstete Archive und Bibliotheken in Reims, reiste durch die Champagne und unterhielt sich mit Winzern. Ihre Biografie über Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin wurde in den USA zum Bestseller und erscheint in diesen Tagen auf Deutsch. Ende Jahr kommt die Verfilmung in die Schweizer Kinos.

Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin war eine ebenso beeindruckende wie widersprüchliche Frau. Kühn und visionär als Unternehmerin, streng und konservativ im Privaten. Sie war Wegbereiterin für kommende Frauengenerationen (etwa die Champagnerproduzentin Louise Pommery), doch umgab sie sich selbst vor allem mit Männern, privat und geschäftlich.

Ihre einzige und in ihren Augen nicht sehr clevere Tochter schloss sie vom Familienimperium aus und verheiratete sie mit einem verschwendungssüchtigen Grafen, an dem sie offenbar selbst Gefallen fand.

Eine geschäftstüchtige Pragmatikerin

Geboren wurde Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin 1777 in einer noblen Industriellenfamilie in Reims, der grössten Stadt der Champagne. Der Familienlegende zufolge soll die grossbürgerliche Tochter während der Französischen Revolution 1789 nur mit viel Glück der wütenden Menge entkommen sein, die gegen die Oberschicht aufbegehrte. Weil die Ponsardins ihren Reichtum nach aussen verbargen und sich opportunistisch den Revolutionären anschlossen, kamen sie ohne Schaden davon.

Schon zu Lebzeiten ihres Mannes interessierte sich Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin (Haley Bennett) für den Weinbau: Szene aus dem Kinofilm.

Zum Rebbau kam Barbe-Nicole, als sie Anfang 20 François Clicquot ehelichte, dessen Familie einen kleinen Weinhandel betrieb, wie es in der Region üblich war. Vermählungen zwischen reichen Familien waren damals politische Liaisons. Die beiden führten, so beschreibt es die Autorin, dennoch eine gelungene Ehe, obwohl sie sehr unterschiedlich waren: er ein zu Schwermut neigender Träumer, sie eine geschäftstüchtige Pragmatikerin.

Die Protagonistin wird als «ein wenig rundlich und klein» beschrieben. Dass Clicquot-Ponsardin nicht dem Schönheitsideal entsprach, habe wohl dazu beigetragen, mutmasst die Autorin, dass sie sich nicht wie andere Industriellengattinnen mit Soireen und Kindererziehung begnügte. Sie interessierte sich für den Weinhandel. Ihr Gatte tolerierte das und liess sie an den Geschäften mitwirken.

Zu diesem Zeitpunkt, im ausgehenden 18. Jahrhundert, lag die Weinindustrie in der Champagne am Boden. Schaumwein wurde, wenn überhaupt, in Versailles und an anderen königlichen Höfen getrunken.

Napoleons Vorliebe für Schaumweine

Eine «mitreissende Önobiografie» nannte die «New York Times» das Werk über die Witwe Clicquot, als es 2008 auf Englisch erschien. In der Tat erfährt man viel über Wein und insbesondere Champagner. Etwa darüber, wie die Bauern eher zufällig die Bläschen im vergorenen Traubensaft entdeckten und darob zuerst wenig erfreut waren, oder über Napoleons Vorliebe für Schaumweine.

Erst ungefähr in der zweiten Hälfte ihres 300 Seiten starken Buches kommt die Autorin zu der Episode, die Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardins Leben in eine neue Richtung lenkte: dem Tod ihres Ehegatten. 1804 starb François Clicquot mit nicht einmal 30 Jahren, offiziell an einer Typhuserkrankung. Man tuschelte, er habe sich angesichts seines drohenden geschäftlichen Scheiterns die Pulsadern aufgeschnitten. Barbe-Nicole war damals 27 und hatte eine kleine Tochter.

Als sie es zur Champagnerkönigin geschafft hatte, liess Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin dieses stattliche Château in Boursault erbauen.

Kenntnisreich und unterhaltsam erzählt Tilar Mazzeo, wie die junge Witwe es schaffte, auf vielen Umwegen den Familienbetrieb zum Erfolg zu führen – und das, obwohl Napoleon die Produkte des Konkurrenten Jean-Rémy Moët bevorzugte. Sie setzt die Geschehnisse in Bezug zu den Kriegen und Revolutionen jener Jahre, die die Stimmung in der Elite (und damit die Lust auf Champagner) beeinflussten.

Dazu kommen die Exkurse zum Rebbau von früher. Das ist präzis und aufschlussreich, wenngleich über weite Strecken sehr detailliert geraten – ein stärkerer Fokus auf die Protagonistin würde dem Buch mehr Zug verleihen.

Russen liebten Champagner

Den entscheidenden Schachzug machte die Witwe Clicquot um 1815, als sie es schaffte, nach dem Ende der Napoleonischen Kriege als Erste Champagner ins russische Kaiserreich zu bringen – die feine Gesellschaft riss sich in der allgemeinen Euphorie um das perlende Getränk. «Schon bald erklärte Zar Alexander I., er werde nichts anderes mehr trinken.» Ihre kühnen Lieferungen nach Russland und Preussen machten Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin, wie Mazzeo schreibt, «zu einer der berühmtesten Frauen in Europa und ihren Wein zu einem der teuersten Artikel des 19. Jahrhunderts» (fünfeinhalb Franc kostete die Flasche – das entsprach damals 80 Franken).

Auch mit anderen geschickten Einfällen bleibt die Champagnerproduzentin in Erinnerung: Sie erfand mit ihrem Kellermeister das Rüttelpult und die «remuage», eine Technik zur Entfernung von Gärrückständen im jungen Wein, die bis heute angewendet wird. Ausserdem war sie die Erste, die Jahrgangschampagner abfüllte (der 1811er galt als legendär), und sie erkannte früh die Bedeutung einer starken Marke und versah ihre Flaschen mit Etiketten (davor erkannte man die Champagnerhäuser einzig an den Korken). Der goldgelbe Aufkleber ist heute ein geschütztes Kennzeichen des Unternehmens.

Die Flaschen werden kopfüber in das Rüttelpult gesteckt und dann regelmässig gedreht, sodass sich die Hefepartikel im Flaschenhals sammeln und gut entfernt werden können – das Ergebnis ist ein klarer Schaumwein.

All das machte Clicquot-Ponsardin sagenhaft reich, gleichzeitig war sie eine der ersten Frauen in der europäischen Geschichte, die an der Spitze eines internationalen Geschäftsimperiums standen (interessanterweise gibt es keine Hinweise, dass sie jemals aus Frankreich herausgekommen ist; stets schickte sie ihre Geschäftspartner als Handelsreisende in die europäischen Märkte).

Schwäche für junge Männer

Im 19. Jahrhundert lag die Lebenserwartung von Frauen nur bei gut 50 Jahren. Die Witwe Clicquot hielt sich auch hier nicht an die Norm: Sie wurde 88 Jahre alt. Erst mit über 60 übergab sie ihr Lebenswerk an einen ihrer langjährigen Geschäftspartner, der als «gut aussehender zwanzigjähriger Deutscher» ins Geschäft eingetreten war und bald die Gunst der Chefin gewonnen hatte. «Barbe-Nicole wurde eine Schwäche für hübsche junge Männer nachgesagt, und wer wollte ihr das aus heutiger Sicht verdenken?», schreibt Tilar Mazzeo.

Die Autorin hat auch schon Bücher über den Duft Chanel No. 5 und das Hotel Ritz in Paris verfasst. Sie weiss, wie man historische Stoffe appetitlich verpackt, und gibt sich alle Mühe, das Leben der Witwe Clicquot anschaulich darzustellen. Trotzdem gesteht sie im Nachwort ihres Werkes: «Dieses Buch zu schreiben, war eine Übung in der indirekten Rede.» Denn die historischen Quellen zur Französin seien angesichts ihrer Bedeutung erstaunlich dünn – vor allem, wenn sie über die reinen Fakten hinausgehen sollen. Briefwechsel, Tagebucheinträge, persönliche Notizen – alles, was Aufschluss darüber geben könnte, was diese besondere Frau dachte und fühlte, war für die Autorin kaum auffindbar, diese Dinge hatten offenbar den Weg in die Archive nicht gefunden.

Sie habe deshalb «mitunter beträchtliche Vorstellungskraft» anwenden müssen, schreibt Mazzeo. Herausgekommen ist eine faktentreue Biografie in stellenweise belletristischem Stil mit gedanklichen Ausschmückungen («Barbe-Nicole wird vermutlich von einer kirchlichen Trauung geträumt haben, mit Kerzen und Chorgesang und Weihrauchduft»).

Stören tut das nicht weiter. Man wird nach der Lektüre jede Flasche Veuve Clicquot – überhaupt jeden Champagner – mit neuen Augen betrachten.

Tilar J. Mazzeo: Im Rausch der Zeit. Das temperamentvolle Leben der Witwe Clicquot. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Harper Collins, 2024. 368 S., ca. 35 Fr.