Weltweite NahrungsmittelkriseVerzweifelt gesucht: Güterwagen für ukrainisches Getreide
Die EU will der Ukraine möglichst schnell mit neuen Exportkorridoren über das Bahnnetz helfen. Die Aktion könnte an den grossen Schwächen des europäischen Schienengüterverkehrs scheitern.
Alle Bahngesellschaften wollen mitmachen. Auch in der Schweiz. «Verfügen Sie über Rollmaterial, welches der Ukraine zur Verfügung gestellt werden kann?» Diese Anfrage flatterte vor wenigen Tagen bei 300 Unternehmen hierzulande in die Mailbox. Die Unternehmen transportieren Waren per Bahn, Lastwagen, Schiff oder Flugzeug und dies in allen Kombinationsformen durch die Schweiz und ins Ausland.
Absender ist der Verband der verladenden Wirtschaft VAP. Die Ukraine benötige in den kommenden Wochen dringend Güterwagen, um die Ernte von Millionen Tonnen von Getreide zu transportieren, heisst es in dem Schreiben. «Gesucht wird Rollmaterial (ältere oder stillgelegte Wagen), das einige Wochen bis zu zwei Jahre zur Verfügung gestellt werden kann.»
Wie war das Echo? «Wir haben derzeit von zwei Anbietern Angebote erhalten», erklärt VAP-Logistikfachmann Jürgen Maier. Mit viel Glück komme man auf etwa 200 Wagen.
Mit diesem Material will sich die Schweiz am Programm «Solidarity Lanes» beteiligen, das die EU-Kommission am 12. Mai ins Leben gerufen hat. Damit sollen die Nahrungsmittelexporte aus der Ukraine durch neue Transportkorridore hin zu Mittelmeer-, Ost- und Nordseehäfen unterstützt werden. Der möglichst rasche Verkauf der Ware ist wichtig, um Platz für die kommende Ernte zu schaffen und Saatgut für die nächste Saison kaufen zu können.
Der Appell geht an Unternehmen in der EU, Eisenbahnwaggons, Lastwagen und Schiffe für einen Transport von Waren über die Donau oder den rumänischen Schwarzmeerhafen Constanta zum Einsatz zu bringen. Mindestens 20 Millionen Tonnen sollen in den nächsten drei Monaten abtransportiert werden.
Hintergrund ist, dass der Export von Getreide über die Seehäfen der Ukraine wegen des russischen Angriffs zum Erliegen gekommen ist. Bis zum Kriegsausbruch gingen 75 Prozent der gesamten Getreideproduktion in den Export. Der allergrösste Teil wurde über Schwarzmeerhäfen ins Ausland spediert. Nun sind die Häfen von den Russen blockiert.
Dies bedroht Lieferungen vor allem für den Nahen Osten und Afrika, wo es bereits zu teils gravierenden Problemen bei der Lebensmittelversorgung gekommen ist. Im Libanon sind die Brotpreise um 70 Prozent in die Höhe geschnellt, nach Somalia gelangen schon gar keine Lieferungen mehr.
Kroatien hat bereits seine Häfen an der Adriaküste zur Nutzung angeboten, um das Getreide möglichst rasch nach Nordafrika zu bringen.
Rollmaterial ist ein knappes Gut
Was zur naheliegenden Frage führt, ob es in Europa überhaupt genügend Güterwagen gibt, die Bahngesellschaften und Logistikunternehmen jetzt freistellen könnten. VAP-Logistikexperte Maiers Antwort ist kurz: «Rollmaterial, ob Lok oder Waggon, ist ein knappes Gut.» Dazu komme, dass es über 150 verschiedene Wagentypen gebe. «Viele davon kann man für den Getreidetransport nicht brauchen.»
«Nun zeigen sich ganz klar die Schwächen des transeuropäischen Schienengüterverkehrs.»
Der gute Wille ist zwar reichlich da. Nur ist der Weg zum schnellen Abtransport mit unzähligen Hindernissen verstellt. Oder wie es VAP-Logistiker Maier sagt: «Nun zeigen sich ganz klar die Schwächen des transeuropäischen Schienengüterverkehrs.»
Während der Schwerverkehr auf den Strassen weitgehend zügig vom östlichen oder nördlichsten Ende Europas in den westlichen Zipfel der Iberischen Halbinsel rollt oder nach Süditalien, bewegt sich der schienengebundene Güterverkehr im Schneckentempo durch den Kontinent.
Das fängt beim schlechten Zustand des ukrainischen Schienennetzes an, das zudem eine andere Spurbreite aufweist als die westlichen Nachbarländer. Ukrainische Güterwagen sind nicht kompatibel mit dem Schienenverkehr im EU-Raum. Die Ladungen müssen somit zuerst auf andere Waggons umgeladen werden. Das kostet Zeit und braucht eine entsprechende Infrastruktur. Und davon gibt es viel zu wenig entlang der ukrainischen Grenze zum Westen.
In der Liste der Hindernisse geht es weiter mit umfangreichen EU-Transportvorschriften und zeitraubenden Formalitäten an den Zöllen. An den Übergängen von der Ukraine in den EU-Raum stauen sich derzeit Tausende von Waggons und Lastwagen und warten auf die Bewilligung zur Weiterfahrt. Die Wartezeit beträgt zwischen 16 und 30 Tagen.
Mittlerweile hat die Ukraine mit Polen eine Abmachung getroffen, wonach die Zollformalitäten für Getreidetransporte vereinfacht werden sollen. Polens Landwirtschaftsminister Henryk Kowalczyk dämpfte allerdings die Erwartungen. Der Transport der von der EU anvisierten vier bis fünf Millionen Tonnen Getreide pro Monat sei für Polen nicht machbar. «Wir können jedoch mithelfen, ein bis zwei Millionen Tonnen zu exportieren.»
Deutsche Bahn fährt bereits Getreide nach Westeuropa
Diesen Weg nutzt jetzt die Cargo-Tochter der Deutschen Bahn. DB Cargo fahre bereits im Auftrag privater Getreideexporteure aus der Ukraine. Laut DB-Chef Richard Lutz sollen zwei bis drei Züge pro Tag aus der Ukraine heraus über Polen und entsprechende Terminals nach Westeuropa fahren.
Zu guter Letzt wird das europäische Schienennetz durch viele Baustellen beeinträchtigt, was den Verkehr massiv verlangsamt. «Die durchschnittliche Rollgeschwindigkeit in Rumänien beträgt 27 Kilometer pro Stunde», teilte der Verband der ukrainischen Getreideindustrie kürzlich mit.
Für all diese Hürden will die EU-Kommission in den nächsten Tagen Lösungen finden. «Mitte nächster Woche wissen wir hoffentlich mehr», erklärt VAP-Logistiker Jürgen Maier. Dann soll eine Logistikplattform aufgeschaltet werden, um freie Transportmittel und Waren besser aufeinander abzustimmen.
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