Verdingt auf dem BauernhofVerstossen und geschlagen – jetzt malt er seinen Schmerz auf Pflaster
Christian Tschannen wurde als Kind fremdplatziert. Mit seinen Bildern erinnert er an die dunklen Kapitel der Schweizer Geschichte – und bemängelt das asynchrone Vorgehen der Politik.
- In seiner Kunst verarbeitet Christian Tschannen seine traumatischen Erfahrungen als fremdplatziertes Kind.
- Seine «Tatortbilder» thematisieren staatliche Zwangsmassnahmen.
- Zum Thema gab es viel wissenschaftliche Aufarbeitung – aber nicht immer arbeitet die Politik synchron.
- In manchen Kantonen erhalten Geschädigte 25’000, in anderen 50’000 Franken.
Christian Tschannen steht vor einem Bild, in das er alles gepackt hat: den körperlichen Schmerz, die seelischen Wunden, die Ohnmacht gegenüber den Behörden, die Wut auf den Staat. Es sind starke Gefühle. Auf dem Bild zu sehen ist einzig: ein Haus, dürr gezeichnet mit schwarzem Strich.
«Tatortbilder» heissen die Werke von Christian Tschannen, eines davon ist zurzeit im Forum Schweizer Geschichte in Schwyz zu sehen, noch bis Ende Monat illustriert es die Ausstellung «Arbeitende Kinder». Die «Tatortbilder» zeigen Amtsstellen im Kanton Solothurn, die der heute 53-jährige Tschannen mitverantwortlich sieht für das Leid, das ihm widerfahren ist. Gemalt sind sie auf Pflaster, «M-Budget, Hunderte Stück davon», wie er erklärt.
Licht spielt mit Schatten, Perspektive entsteht durch den strengen Strich, ganz im Einschlag des Fotorealismus. Ein Stil, der fast schon plakativ wirkt vor Tschannens biografischem Hintergrund: Ab 1978 erlebte er als Kind über elf Jahre lang administrative Zwangsmassnahmen, wurde zusammen mit seinem Bruder auf einem Bauernhof im Emmental als Arbeitskraft gehalten, bevor er später, trotz einer präsenten Mutter, in einem Jugendheim platziert wurde.
Die Einsicht in seine Akte veränderte Tschannen als Künstler
Verdingung, Zwangsmassnahmen, administrative Versorgung – im nationalen Gedächtnis sind die dunklen Kapitel der neueren Schweizer Geschichte in den früheren Dezennien des 20. Jahrhunderts abgelegt. Dass so etwas noch Mitte der 80er-Jahre geschehen konnte, hält kaum jemand für möglich; von Fällen wie dem von Christian Tschannen wird wenig gesprochen. Dabei fand gerade die Verdingung durch eine umfassende Aufklärung Eingang ins kulturelle Gedächtnis, es gab den Verdingbub Arthur «Turi» Honegger, der später als Journalist und Schriftsteller seine Geschichte erzählte, es gab den «Verdingbub» von Regisseur Markus Imboden im Kino (2011), es gab Ausstellungen und Dokumentarfilme.
2010 bat die damalige Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf hochoffiziell um Entschuldigung. 2013 berief ihre Nachfolgerin Simonetta Sommaruga einen runden Tisch ein, der zur Verabschiedung des Bundesgesetzes über die Rehabilitation administrativ versorgter Menschen (Akteneinsichtsrecht) sowie über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG) führte.
Für Christian Tschannen war das Akteneinsichtsrecht der Moment, in dem er erkannte, dass er über seine schwierige Vergangenheit sprechen möchte, weil es andere nicht können. «Als ich schwarz auf weiss daran erinnert wurde, wie mit mir verfahren worden war, wurde mir klar, dass ich nicht nur als Betroffener, sondern auch als Kunstschaffender reagieren muss», sagt Tschannen. Die «Tatortbilder» entstanden, aber auch Fotografien mit gestrecktem Mittelfinger, angelehnt an Ai Weiweis «Study of Perspective», oder die kubistische Anordnung der über 700 Seiten Aktenmaterial seiner Familie.
Mit seinen Provokationen und Installationen bewegt sich Tschannen zwischen Kunst und Aktivismus, ist so zum Anwalt aller Versehrten von Zwangsmassnahmen in der Schweiz geworden. Er spricht pointiert darüber, was ihm angetan wurde und was sich in der Aufarbeitung noch bessern sollte, auf Podien, mit Besuchern im Museum oder im Verein Haus der anderen Schweiz, dem er als Präsident vorsteht.
Körperliche Wunden wurden beim Tierarzt versorgt – um kein Aufsehen zu erregen
Tschannens Leidensgeschichte beginnt 1978 in Grenchen. Die Ehe der Eltern geht zu Bruch, seine Mutter, alleinerziehend und überfordert, gibt das Sorgerecht für ihre beiden Söhne auf Druck des Sozialamts hin ab. Tschannen und sein Bruder, beide schon schulpflichtig, kommen zu einer Bauernfamilie in Schangnau im Emmental – damals noch eine kleine Weltreise.
Auf dem Hof werden es für die beiden Brüder traumatisierende Jahre. Zu Hause müssen sie bis zur Erschöpfung mit anpacken, in der Schule dürfen sie sich davon nichts anmerken lassen. Wenn sie aufbegehren, werden sie geschlagen. Verletzen sich die Kinder durch die Arbeit auf dem Hof, lässt die Familie sie auch mal beim befreundeten Tierarzt versorgen, um kein Aufsehen zu erregen.
1986 ist Tschannen 15 Jahre alt, nach einem kurzen Aufenthalt in einem Kinderhaus wird er im Jugenddorf St. Georg im luzernischen Knutwil platziert. 1981 wurden die Bestimmungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über den fürsorgerischen Freiheitsentzug in das Zivilgesetzbuch überführt – erst sieben Jahre nachdem die Schweiz die EMRK ratifiziert hatte.
Im Jugenddorf gibt es für Tschannen dennoch Strafen, wenn er die Arbeit verweigert. Er erlebt Gewalt, zudem wird ihm medizinische Versorgung verweigert, was die damals aufkommenden Rheumabeschwerden bis heute nachklingen lässt. Nach seiner Entlassung aus dem Heim 1989 macht Tschannen eine Lehre als Autolackierer, orientiert sich Mitte 20 aber aufgrund körperlicher Beschwerden neu und studiert Kunst an der Hochschule für Gestaltung in Luzern. Er stellt erste Werke aus, auf Einladung von Pro Helvetia auch in Südafrika, sein wacher Blick lässt ihn gesellschaftliche Missstände gekonnt in seinen Arbeiten reflektieren. Doch die rheumatischen Beschwerden werden für regelmässige Arbeit an seiner Kunst zu gross, es plagen ihn Schmerzen, Müdigkeit, Haltungsschäden, auch finanzielle Probleme. Heute lebt Tschannen von der IV.
Heute bekämpft Tschannen die Behörden, spricht vom «Filz» in Solothurn
Das Einstehen für die Erinnerung an das historische Unrecht, das ihm und vielen anderen widerfahren ist, vermischt Tschannen heute mit seinem persönlichen Kampf gegen die Behörden in Solothurn: Er setzt sich dafür ein, dass auch seine Mutter Rehabilitation erfährt, und ist der Überzeugung, dass sich die dortigen Obrigkeiten auch heute noch in einer Art Filz gegenseitig decken.
Tschannen spricht auch im Projekt «Gesichter der Erinnerung» vor der Kamera, das Geschädigte von Zwangsmassnahmen und ihre Angehörigen zu Wort kommen lässt. Die jüngste Direktbetroffene ist 1975, die ältesten sind 1947 geboren – was zeigt, dass der Begriff «Verdingkind» und der Verweis auf schwarz-weisse Vorzeiten in den 40er- und 50er-Jahren die Geschädigten nur unzureichend beschreibt.
Loretta Seglias hat mitgeholfen, die «Gesichter der Erinnerung» vor der Kamera zu versammeln. Die freischaffende Historikerin forscht seit 20 Jahren zu den Themen Verdingung und administrative Zwangsmassnahmen in der Schweiz. Sie war Mitglied der unabhängigen Expertenkommission (UEK), die der Bundesrat ab 2014 während fünf Jahren eingesetzt hat, um die Vorkommnisse in der Schweiz zu untersuchen. Heute spricht sie auf Podien und in Weiterbildungen über die wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Aufarbeitung.
Die Kantone entschädigen ungleich – von manchen gibt es 25’000 Franken
«Man muss die Aufarbeitung gerade auch im Kontext mit der Sozial- und Fürsorgepraxis betrachten», sagt Seglias. Dank der intensiven Auseinandersetzung mit den Geschädigten wisse man heute besser, dass erlittene Traumata auch die nächste Generation beeinflussen könnten. «Die Geschichte wirkt bis heute weiter.» Einige überlegten sich, ob sie darüber reden sollten, sagt Seglias. Sie fürchteten eine Stigmatisierung und Folgen für ihr Berufsleben oder die Familie. «Über das Erlebte zu sprechen, ist nicht einfach – Personen, die das dennoch machen, sind wichtig für die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte.»
Auch wenn bis heute viel getan wird für die Entschädigung der Betroffenen, mangelt es dabei bisweilen an politischer Konsequenz. Mit dem Bundesgesetz über die Aufarbeitung beschloss der Bund 2017, Geschädigten einen Solidaritätsbeitrag von 25’000 Franken zu bezahlen. Erst 2023 entschied sich dann die Stadt Zürich, für Betroffene in ihrer Gemeinde 25’000 Franken draufzulegen, vergangenen Mai zog der Kanton Schaffhausen nach. Die Rechtsgleichheit ist nicht mehr gegeben. Die Situation bedürfe einer Normierung, findet auch Tschannen und sagt: «Wenn der Staat eingreift und Schäden verursacht, muss er dafür geradestehen und reparieren, also müsste man im Prinzip von Reparationszahlungen reden.»
Nicht alle Forschungsprojekte im Zusammenhang mit Verdingung und Zwangsmassnahmen hatten denselben Hintergrund. 2019 legte die unabhängige Expertenkommission (UEK) ihren Schlussbericht vor. Es wurde klar, dass das Problem in der Schweiz viel umfassender gewesen sein muss als bislang angenommen: Von rund 60’000 Betroffenen in mehr als 600 Anstalten ist im Bericht zu lesen. Die UEK formulierte diverse Empfehlungen an den Bundesrat; von einem Hilfsfonds zur Deckung medizinischer Kosten über Steuererlass für Geschädigte bis hin zur Finanzierung von weiterer Forschung.
Noch breiter untersuchte ab 2017 das nationale Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang» (NFP) die Geschehnisse, der Fokus lag auf der Zeit nach 1981. Als Projekt des Nationalfonds hatte das Programm diverse finanzielle Stakeholder, die mitreden wollten. Besonders der Fokus auf die jüngere Vergangenheit sorge dafür, dass gerade die Kantone nicht unbedingt das grösste Interesse daran hätten, dass alles ans Licht komme, sagen Christian Tschannen und andere Beobachter. Und waren es im UEK-Bericht noch Empfehlungen, sind es beim NFP nur noch Impulse, die an die Politik weitergehen.
Sein nächstes Projekt zeigt die «Kultivierung von Unkultur»
Und wo steht Tschannen nun mit seiner Kunst in einer Gesellschaft, in der er als Geschädigter von Zwangsmassnahmen um Aufmerksamkeit und Akzeptanz kämpft? «Ich suche nach einer Ästhetik, die objektiv und sachlich ist», sagt er. Er wolle Kunst machen, die nicht nur seine Geschichte behandle, sondern auch den anderen Opfern gerecht werde. Etwa mit seinem nächsten Projekt: Die Erzählungen von Betroffenen sammelt er und gibt sie bildlich wieder, im Stil des traditionellen Schweizer Scherenschnitts, mit Unerhörtem die Tradition brechend. Oder wie Tschannen es nennt: «Die Kultivierung von Unkultur.»
Die Ausstellung «Arbeitende Kinder» ist noch bis zum 27. Oktober im Forum Schweizer Geschichte in Schwyz zu sehen, ab Dezember 2025 dann im Landesmuseum Zürich.
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