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Meinung

Wahlkampfthema in den USA
Wie der Wirtschaftsboom zur Abschottung der Amerikaner geführt hat

Bulldozers move coal near the United States Steel Corp. Clairton Coke Works facility in Clairton, Pennsylvania, US, on Monday, Sept. 9, 2024. United States Steel Corp. faces the prospect of being broken apart and sold in parts if Nippon Steel Corp.'s $14.1 billion takeover fails. Photographer: Justin Merriman/Bloomberg via Getty Images
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In Kürze:
  • In den USA wächst die Skepsis gegenüber der Globalisierung und ausländischen Firmen.
  • Donald Trump und Kamala Harris unterstützen zunehmend protektionistische Wirtschaftsstrategien.
  • Die Demokraten haben viele Positionen von Donald Trump übernommen.
  • Experten warnen, dass die Globalisierung nicht einfach umkehrbar ist.

Die Amerikaner haben sich zu Hause eingeigelt. Man sieht das, wenn man irgendwo im Land an einer Haustür klingelt und einen Sicherheitskameras mit dunklen Fischaugen anstarren. Millionen Immobilienbesitzer haben ihre Häuser mit ihnen ausgerüstet, auf Amazon kosten sie hier weniger als hundert Dollar. Es sind Symbole der Abwehr: Fremder, komm mir bloss nicht zu nah!

Es hat sich etwas verschoben im Land, das zu 99 Prozent aus Einwanderern und ihren Nachkommen besteht. Nicht nur die eigenen Nachbarn und Menschen, die über die Grenze aus Mexiko kommen, erscheinen vielen Amerikanern heute verdächtig. Auch ausländischen Firmen begegnen sie mit Skepsis bis Feindseligkeit. Im liberalen Neuengland sprechen Anwohner über Windparks, die europäische Unternehmen dort planen, wie über biblische Plagen. Im bodenständigen New Jersey schimpfen sehr gut verdienende Hafenarbeiter über die Profitgier ausländischer Reedereien.

Eine Idee hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt: dass die Globalisierung die USA arm gemacht hat. Dass es besser ist, sich von der Welt abzukapseln. Donald Trump macht gerade wieder höchst erfolgreich Wahlkampf mit dieser Idee. Sein «Make America Great Again» ist zum Schlachtruf der Abschottung geworden. Aber nicht nur seine Fans glauben, dass die Wirtschaft vor allem den eigenen nationalen Interessen dienen muss. Auch Demokraten sehen das so.

Wie konnte es so weit kommen, dass der amerikanische Protektionismus über die Parteigrenzen hinweg zum Heilsversprechen wurde? Warum haben sich die USA vom Freihandel verabschiedet, einer Politik, die sie einst vorangetrieben haben wie keine zweite Nation?

«US Steel sollte Amerikanern gehören»

Um das zu verstehen, muss man nach Pittsburgh schwenken, stolze Arbeiterstadt im Swing-State Pennsylvania. Der Niedergang der Stahlindustrie hat die Bevölkerung von Pittsburgh seit 1950 fast halbiert. Jetzt wollen Japaner US Steel kaufen, den letzten grossen Stahlkonzern der Stadt. Nur durch diese Übernahme könne sich US Steel international behaupten und die Jobs der Stahlarbeiter in Pittsburgh sichern, beteuert der mögliche Käufer Nippon Steel.

Am amerikanischen Tag der Arbeit, dem 2. September, tritt Kamala Harris in Pittsburgh auf, sie braucht die Stimmen der Arbeiter vor Ort. «US Steel sollte Amerikanern gehören und von Amerikanern betrieben werden», ruft sie den jubelnden Stahlarbeitern im Publikum zu. Später wird Harris noch deutlicher: Sie will die Fusion unbedingt verhindern, sie sieht darin eine Gefahr für die nationale Sicherheit. Dabei gehört Japan zu den engsten Verbündeten der USA. Nippon Steel verspricht, keines der amerikanischen Werke von US Steel zu schliessen und Milliarden Dollar zu investieren.

Es gibt noch jemand anderen, der den Deal mit allen Mitteln blockieren will, wie er schon Monate vor Harris angekündigt hat: Donald Trump. Als Präsident hatte Trump Strafzölle auf 10’000 Produkte aus teils den USA freundlich gesonnenen Ländern wie der EU und Mexiko erlassen. Sein Nachfolger Joe Biden übernahm viele dieser Zölle nicht nur, er erhöhte manche sogar. Auch den von Trump angezettelten Handelskrieg mit China beendete Biden nicht etwa. Er forcierte ihn. «The trumpification of American policy» nennt das britische Magazin «Economist» dieses Phänomen: Die Demokraten haben viele Positionen von Trump übernommen. Was einst als randständig und extrem galt, ist so Mainstream geworden.

Genau genommen hat Trump den amerikanischen Protektionismus nicht erfunden, sondern nur wiederentdeckt. Die längste Zeit ihrer Geschichte waren die Vereinigten Staaten ein verschlossenes Land. Die 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen die USA zur Weltmacht aufstiegen und Handelsbarrieren abbauten, waren die Ausnahme, nicht die Regel. Zuvor schottete sich die US-Wirtschaft über Jahrzehnte hinweg mit Zöllen ab. Sie waren bis 1910 für die Hälfte der Staatseinnahmen verantwortlich. Diese Haltung wirkt bis heute nach. Noch immer besitzt bloss die Hälfte der US-Staatsbürger einen Reisepass. Der eigene Kontinent ist vielen gross genug.

Auch Europa igelt sich ein

Auch ausserhalb der USA besinnen sich Staaten wieder stärker auf ihre nationalen Interessen. Die EU verhängt Zölle gegen chinesische Elektroautos, um die heimischen Autobauer zu schützen. Politiker werben für Decoupling und Reshoring, also für die Entflechtung allzu enger wirtschaftlicher Beziehungen mit China und die Rückkehr strategisch wichtiger Branchen nach Europa.

Doch es gibt einen Unterschied: Denn etwa Deutschland zählte zu den Gewinnern der Globalisierung, wurde nach der Jahrtausendwende zum Exportweltmeister, verkaufte Produkte in alle Welt – vor allem nach China. In den Vereinigten Staaten ging die Industrie unter. Mehr als eine Million Jobs verschwanden.

Die Ökonomen Autor, Dorn und Hanson haben diesen «China-Schock» in mehreren viel beachteten Aufsätzen untersucht: Als China 2001 der Welthandelsorganisation WTO beitrat, fluteten billige Waren «made in China» die amerikanischen Supermärkte. Was die Verbraucher freute, schadete der US-Industrie, die nicht mit den Preisen der chinesischen Konkurrenten mithalten konnte. Überall im Land machten Möbelfabriken und Textilfabriken dicht, was zum Abstieg ganzer Landstriche im Mittleren Westen und im Südosten führte. Die Wähler dort, die lange Zeit den Demokraten treu gewesen waren, wandten sich den Republikanern zu. Besser gesagt: Donald Trump.

Die finstere Seite der Globalisierung

Viele liberale Politiker und Ökonomen, die damals für den Freihandel trommelten und ihn auch später noch verteidigten, beharrten zu lange stur darauf, dass der Wohlstand der USA durch den freien Austausch von Waren und Ideen gestiegen sei. Doch sie übersahen, dass der Wohlstand nicht allen Amerikanern zugutekam. Die Arbeitslosen konnten auch nicht einfach umziehen, wie es die ökonomischen Lehrbücher vorsahen.

Heute leugnet niemand mehr, dass die Globalisierung in den USA viele Verlierer hervorgebracht hat. Die Wunden, die sie im Land hinterlassen hat, sind äusserlich sichtbar, in heruntergekommenen, von Armut und Drogensucht gezeichneten Ortschaften. Aber der Verlust der Industriejobs hat auch zu inneren Verletzungen geführt. Er hat am Selbstwertgefühl nicht nur der Arbeiter, sondern vieler Amerikaner gekratzt und sie ängstlich werden lassen. Wie reagieren Menschen auf Angst? Mit Abschottung. Das erklärt die vielen Sicherheitskameras an den Haustüren.

Was folgt daraus? Ist es womöglich wirklich im Interesse der USA, das Zeitalter des Freihandels endgültig zu beenden? Nein.

Denn nicht die Globalisierung und ihre Folgen sind das Problem, sondern der Umgang damit. Ein erfindungsreicher Mittelstand, der in die Welt hinausdrängt, hilft – US-Unternehmen aber gaben sich mit dem heimischen Markt zufrieden. Selbstbewusste Gewerkschaften können ebenfalls helfen, Jobverluste abzufedern, auch das fehlt in den USA. Die Gewerkschaften haben hier trotz einiger jüngerer Erfolge an Einfluss verloren.

Protektionismus ist gut, da ist man sich einig

Man könnte nun erwarten, dass Donald Trump und Kamala Harris im Wahlkampf darüber streiten, was konkret zu tun wäre, um den Globalisierungsverlierern zu helfen. Doch Harris will lieber die Fusion zweier Stahlkonzerne verhindern, die aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll erscheint und die amerikanische Stahlindustrie für die Zukunft rüsten könnte.

Trump plant derweil Strafzölle von um die 20 Prozent auf alle ausländischen Importe. Dabei tragen Ökonomen immer mehr Belege zusammen, warum Zölle keine Fabriken in die USA zurückbringen. Im Gegenteil: Sie kosten sogar Jobs. Da Länder wie China mit Gegenzöllen reagieren, werden US-Firmen ihre Produkte dort nicht mehr los und müssen zu Hause Leute entlassen. Und auch die amerikanischen Verbraucher zahlen einen Preis, weil Unternehmen die Zölle an sie weitergeben.

Das zeigt: Die Globalisierung lässt sich nicht einfach umkehren. Man kann die amerikanische und die globale Wirtschaft nicht trennen wie zwei Boxer im Ring. Und es führt auch nicht sehr weit, Unternehmen nur deshalb zu misstrauen, weil sie nicht amerikanisch sind. Das kann man in Phoenix, Arizona, sehen. Dort entsteht gerade eine Halbleiterfabrik, gefördert mit fast sieben Milliarden Dollar vom US-Staat. Sie soll die Vereinigten Staaten unabhängig von asiatischen Chip-Herstellern machen. Es ist eines der Projekte, die Joe Bidens industriepolitisches Vermächtnis zementieren sollen, auch Kamala Harris verweist in ihren Wahlkampfreden gern auf die Initiative. Gebaut wird die Fabrik aber nicht von einem US-Unternehmen, sondern von TSMC aus Taiwan.

Es hilft also nicht weiter, zwischen guten, weil amerikanischen, und schlechten, weil ausländischen, Firmen zu unterscheiden. Genauso wenig wie es hilft, Handelsbarrieren wieder hochzuziehen. Klüger wäre anderes. «Es stehen den USA noch viele weitere Schocks bevor», warnt David Autor, der einst den «China-Schock» diagnostizierte. Der Ausstieg aus der fossilen Energie etwa werde weitere Verlierer hervorbringen. Autor rät deshalb zwei Dinge: mehr tun, um Menschen in anderen Jobs unterzubringen, und in abgehängte Regionen investieren.

Es gibt solche positiven Beispiele schon heute. Das Städtchen Clayton in North Carolina gehört zu den Orten, die am stärksten unter dem China-Schock litten. Nun will Novo Nordisk dort für vier Milliarden Dollar seinen Standort erweitern. 1000 neue Jobs sollen entstehen. Damit der Konzern hinter der Abnehmspritze auch die geeigneten Leute findet, hat sich die Lokalregierung verpflichtet, Menschen an den kommunalen Colleges dafür auszubilden. Dass Novo Nordisk ein dänisches Unternehmen ist, interessiert in Clayton bis jetzt niemanden.