Strickers Absturz«Dominic hat den Spass am Tennis verloren»
Der 22-Jährige verliert am US Open in vier Sätzen gegen Francisco Comesaña (ATP 108) und fällt aus den Top 300. Sein Coach Dieter Kindlmann spricht Klartext.
Die Bilder gingen um die Welt: Bevor er am US Open 2023 gegen Stefanos Tsitsipas seinen grössten Sieg sicherstellte, sang Dominic Stricker beim letzten Seitenwechsel zu Whitney Houstons «I Wanna Dance with Somebody» mit, das aus den Lautsprechern dröhnte. Der junge Berner entzückte mit seiner Unbeschwertheit und seinem feinen Händchen, spielte sich in Flushing Meadows als Qualifikant bis in den Achtelfinal und in die Top 100. Das Schweizer Tennis, das sich nach neuen Stars in der Ära nach Roger Federer sehnt, schien ihn im talentierten Linkshänder gefunden zu haben.
Ein Jahr später ist Stricker am US Open in der ersten Runde am Argentinier Francisco Comesaña (ATP 108) gescheitert und fällt aus den Top 300. Dabei hatte er mit dem New Yorker Debütanten ein gutes Los erwischt und lange viele Vorteile auf seiner Seite gehabt. Er breakte den nervösen Comesaña gleich zu Beginn und gewann den Startsatz, führte im zweiten Durchgang mit Break und im dritten 4:1, doch er verspielte den Vorsprung jeweils wieder. Im dritten Durchgang verpasst er einen Satzball. Er wirkte gehemmt und liess seinen Gegner die Punkte diktieren. Mit seiner zweihändigen Rückhand schob er die Bälle meist nur ins Feld rein.
Sein Coach Dieter Kindlmann versuchte ihm bis zuletzt gut zuzureden, doch es nützte nichts. «Ich brauche einen Moment, um mich zu fassen», sagte der Deutsche nach dem Spiel. Eine Stunde danach war er bereit zu reden. «Es gibt nichts schönzureden: Das war ein absolut schlagbarer Gegner. Und so, wie das Spiel läuft, muss es Dominic gewinnen. Wir sind alle sehr enttäuscht. Ich habe kein Problem damit, wenn Dominic verliert. Was mich nachdenklich stimmt: die Art und Weise. Wir müssen das Ganze jetzt genau analysieren.»
Er habe gewusst, dass der Wiedereinstieg auf Tour nach der Verletzungspause schwierig werde, so Kindlmann. «Es waren sechs sehr schwere Monate. Aber wir hatten gehofft, dass Dominic zur Zeit des US Open schon weiter sein würde. Er ist in allen Bereichen noch gehemmt. Es fehlen die Leichtigkeit, das Selbstvertrauen, die Entschlossenheit bei wichtigen Punkten, das Spielverständnis. Überall fehlen ein paar Prozent. Wenn ich ihm in den Matches zuschaue, habe ich das Gefühl: Er hat den Spass am Tennis verloren. Dieser Spass muss unbedingt zurückkommen. Denn der zeichnet ihn aus.»
Anfang Juni kehrte Stricker an den Challenger-Rasenturnieren in Surbiton, Nottingham und Ilkley auf die Profitour zurück. Danach nutzte er sein geschütztes Ranking, um in Wimbledon teilzunehmen, wo er in der Startrunde in vier Sätzen gegen den Franzosen Arthur Fils verlor. Es gab ermutigende Zeichen in jener Partie, doch die erhofften Fortschritte sind seitdem ausgeblieben. Auch im Schweizer Interclub, wo er zwar mit dem TC Seeblick Schweizer Meister wurde, aber drei seiner vier Einzel verlor – unter anderem gegen Damien Wenger (ATP 422), die Nummer 9 der Schweiz.
Die Niederlagen nagen an ihm
Die vielen Niederlagen haben an Stricker genagt. Ihm fehlt die Selbstverständlichkeit, die in diesem komplexen Sport so wichtig ist. Auf schöne Punkte folgen Fehler, bei Breakbällen unterlaufen Stricker Doppelfehler. Der Kontrast zum vergangenen Jahr könnte kaum grösser sein. «Im Training habe ich zuletzt grosse Fortschritte gemacht», sagt Stricker. «Aber in den Matches kommen die Nerven ins Spiel. Was da in wichtigen Momenten in dir vorgeht, kannst du nicht im Training simulieren. Wenn es eng wird, werde ich nervös und verkrampfe mich.»
Vergangene Woche in Winston-Salem, wo er mit Federico Coria (ATP 78) erstmals seit seiner Rückkehr einen Top-100-Spieler schlug, habe Stricker wirklich gut gespielt, sagt Kindlmann. Umso enttäuschter sei er nun nach diesem neuerlichen Rückschlag in Flushing Meadows. «So schnell geht es im Sport», sinnierte der Deutsche. «Letztes Jahr machte sich Dominic nicht gross Gedanken und ging spielerisch alles sehr leicht. Nun verpasst er seine Chancen und fällt dann komplett auseinander. Er geht durch ein dunkles Tal.»
Weil ihm die Punkte von seinem letztjährigen US-Open-Exploit aus der Wertung fallen, rutscht Stricker in der Weltrangliste weit ab – von Rang 169 auf zirka 330. Das Rezept, um wieder Vertrauen zu schöpfen, sind allein Siege. Am US Open, das in ihm nach seinem letztjährigen Höhenflug immer noch wohlige Gefühle weckt, schaffte er es nicht, einen Schritt nach vorne zu machen. Nach New York spielt er Mitte September am Davis-Cup in Biel gegen Peru, danach reist er mit Kindlmann nochmals zurück nach New York für drei Challenger-Turniere in Columbus, Charleston und Tiburon.
Im Doppel noch dabei
Vorerst ist der 22-Jährige in New York aber noch im Doppel engagiert, mit dem Italiener Flavio Cobolli. Die beiden siegten 2020 im Doppel am Pariser Juniorenturnier, Stricker damals auch im Einzel. Inzwischen ist Cobolli weiter, nach einem starken Jahr wird er bereits auf Rang 31 geführt. Es zeigt, was auch für Stricker möglich wäre. Ihre Paarung kam nur zustande, weil Cobollis Partner Marco Bortolotti, ein Doppelspezialist, nicht in die USA einreisen konnte, weil er einmal im Iran gewesen war. Diese Episode ringt Stricker an diesem für ihn schwierigen Tag noch ein Lächeln ab. Immerhin.
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