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Meinung

Leitartikel zum Unterschriften-Bschiss 
Unsere Demokratie hat einen Defekt – bitte flicken!

Passantinnen und Passanten unterschreiben am 24. Oktober 2009 an einem Stand der Lungenliga Aargau in der Fussgaengerzone von Baden, Schweiz, die Volksinitative "Schutz vor Passivrauchen". (KEYSTONE/Martin Ruetschi)
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Gibt es etwas Einfacheres, als eine Unterschrift für ein Schweizer Volksbegehren zu fingieren? Schritt 1: Die Fälscherin, der Fälscher findet irgendwo Ihren Namen, Ihre Adresse und Ihr Geburtsdatum – zum Beispiel auf einem Bogen einer Initiative, die Sie tatsächlich unterschrieben haben. Schritt 2: Sie oder er überträgt Ihre Angaben samt Ihrer Unterschrift auf einen anderen Sammelbogen. Fertig ist die perfekte Fälschung.

Nun ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass «Ihre» Unterschrift für gültig erklärt wird. Nicht einmal die Handschrift muss echt wirken, denn die Gemeinden verfügen über kein Handschriften- oder Unterschriftenregister zur Kontrolle.

Der Anreiz, die Schwächen des Systems auszunutzen, ist gross, denn pro Unterschrift – also für ein paar Sekunden Abschreiben – werden bis zu 7.50 Franken bezahlt. So wird das Fälschen zum Massengeschäft. Diese Redaktion hat die Machenschaften diese Woche öffentlich gemacht. Das genaue Ausmass kennt niemand.

Sie machen mit neuer Masche weiter

Sicher ist jedoch: Die direkte Demokratie, unser Stolz, hat einen Defekt. Die Bundeskanzlei, Hüterin der Volksrechte, weiss das seit Jahren, aber sie schlug nicht Alarm. Sie erstattete zwar Strafanzeige und hat gemäss eigenen Angaben den Bundesrat über Ermittlungen der Bundesanwaltschaft orientiert, aber auch die Landesregierung warnte die Öffentlichkeit nicht.

Das Schweigen im Bundeshaus ermöglichte es, dass die mutmassliche Täterschaft einfach weitermachte – nun sogar mit einer neuen rechtlich fragwürdigen Masche: Sammelfirmen sammeln Unterschriften für Initiativen, ohne dass sie dafür einen Auftrag eines Komitees haben. Sie versuchen zuerst nett, die Initianten dazu zu bewegen, ihnen diese Unterschriften abzukaufen. Will das Komitee nicht, drohen die kommerziellen Sammler, die Unterschriften zu vernichten.

Noch schlimmer macht die Sache, dass Bundeskanzler Viktor Rossi den Ernst der Lage noch immer herunterspielt. Auch Rossi redet zwar mittlerweile von einem Missbrauch der Demokratie. Gleichzeitig zeigt er sich sicher, dass alle Volksbegehren, die beim Bund in der Pipeline sind, korrekt zustande gekommen seien – selbst solche mit einem knappen Polster und einem hohen Anteil von Unterschriften aus der Waadt und angrenzenden Kantonen, wo am meisten Fälschungen auffliegen.

Dreiste und Dumme fliegen auf

Rossi behauptet, die aufgedeckten Fälle zeigten, dass Fälschungen zuverlässig erkannt würden. Das ist leider nicht der Fall. Kontrolleurinnen und Kontrolleure wissen: Es fliegen nur die besonders dreisten oder dummen Fälscherinnen und Fälscher auf – zum Beispiel jene, die dieselben Personenangaben in unterschiedlicher Handschrift mehrfach für das gleiche Volksbegehren einreichen. Gegen raffiniertere Fälschungen haben die Kontrollverantwortlichen kaum eine Chance.

Einzelne Politiker sagten in ersten Reaktionen auf die Enthüllungen, sie wollten nun abwarten, was die Strafverfahren ergäben. Doch da gibt es zwei Probleme: Erstens prüft die Strafjustiz nicht, ob Urnengänge legal oder illegal zustande gekommen sind. Sie klärt lediglich ab, ob sich Einzelpersonen und allenfalls Unternehmen strafbar gemacht haben. Zweitens sind Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalpolizei, die in mehreren Fällen intensiv wegen Wahlfälschung ermitteln, nicht für ihr Tempo bekannt.

In den fünf Jahren, in denen die Probleme immer akuter wurden, wurde wegen des Unterschriften-Bschiss ein einziger Strafbefehl erlassen: gegen eine Mitarbeiterin der Lausanner Sammelfirma Incop. Die Täterin fälschte Anfang 2019 Angaben auf zwölf Bögen der Justizinitiative. Die Strafe blieb überschaubar: 100 Tagessätze zu je 50 Franken bedingt und 1000 Franken Busse. Abschreckung sähe anders aus. Das Verfahren in diesem überschaubaren Fall nahm fast zwei Jahre in Anspruch.

Es braucht Nachkontrollen

Dies alles zeigt: Politik und Verwaltung müssen den Defekt der direkten Demokratie selbst flicken. Die Geschäftsprüfungskommission des Ständerats will sich der Sache annehmen. Doch vermutlich reicht dies nicht. Damit das Vertrauen in die direktdemokratischen Prozesse erhalten bleibt, müssen die Bögen von Abstimmungen, die anstehen, zumindest stichprobenweise nachkontrolliert werden – und zwar indem die Personen, die angeblich unterschrieben haben, abtelefoniert werden. Sollte es für solche Kontrollen keine rechtliche Grundlage geben, muss diese schnellstens geschaffen werden.

Zudem muss langfristig ein weniger anfälliges System installiert werden. Sicherer gemacht werden kann der bisherige Sammelprozess durch ein Unterschriftenregister bei den Gemeinden oder durch E-Collecting, also elektronisches Sammeln, zum Beispiel über das Handy. Will man das nicht, bleibt nur noch ein Verbot des kommerziellen Sammelns – was ohnehin die einfachste Lösung wäre. Vielleicht haben kluge Köpfe im Land nach einer Woche Unterschriftenskandal auch andere innovative Lösungen, um die Volksrechte zu stärken. Dann hätte der grosse Bschiss sogar noch positive Folgen.