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Interview zum Unterschriften-Bschiss
«So wird eine Initiative zur Ware, die man bestellen kann wie eine Pizza»

Daniel Graf.
Daniel Graf, Präsident Stiftung für Demokratie: Fordert sofortiges Moratorium für bezahlte Sammlungen.
02.09.2024
(RAHEL ZUBER/TAGES-ANZEIGER)
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Erfundene, gefälschte und kopierte Unterschriften: Laut Recherchen dieser Redaktion ist es beim Sammeln für Volksinitiativen mutmasslich zu Wahlfälschungen im grossen Stil gekommen. Kaum jemand im Land kennt den Maschinenraum der direkten Demokratie so gut wie Campaigner Daniel Graf. Der Historiker ist Mitbegründer der Stiftung für direkte Demokratie und der Plattform Wecollect. Im Interview übt er scharfe Kritik am heutigen System.

Herr Graf, Unterschriften für Volksinitiativen wurden in der Schweiz offenbar im grossen Stil gefälscht. Täuscht der Eindruck oder sind Sie nicht sonderlich überrascht?

Wenn ich eine Vorbemerkung machen darf: Das ist ein schwieriges Interview für mich, weil ich natürlich schockiert bin über das Ausmass dieses Betrugs – und gleichzeitig schon länger Hinweise darauf hatte, dass es Schwierigkeiten gibt. Diese Erkenntnis ist schmerzhaft. Es steht viel auf dem Spiel, es geht um das Vertrauen in die direkte Demokratie.

Beginnen wir von vorn: Wann hatten Sie erstmals Hinweise darauf, dass etwas nicht mit rechten Dingen zu und her geht?

Es gibt seit rund fünf Jahren Informationen, wonach kommerzielle Firmen auf der Strasse mit falschen Aussagen Unterschriften erschleichen. Publik wurde dies etwa beim Referendum gegen den Vaterschaftsurlaub. Auch anderes liess darauf schliessen, dass es in Einzelfällen zu Manipulationen kam. So fischten die Behörden bei gewissen Initiativprojekten ungewöhnlich viele ungültige Unterschriften heraus.

Aber?

Ich bin immer davon ausgegangen, dass die kantonalen Amtsstellen und die Bundeskanzlei die Sache im Griff haben. Dass sie Fälschungen aus dem Verkehr ziehen und, wo nötig, strafrechtliche Massnahmen einleiten. Doch die Situation ist offensichtlich schon lange aus dem Ruder gelaufen. Das ist sehr bitter.

Wer hätte Alarm schlagen müssen?

Wer wann welche Informationen gehabt hat, muss sich jetzt zeigen. Auffällig war natürlich, dass der Kanton Neuenburg das kommerzielle Sammeln von Unterschriften 2021 verboten hat. Im Nachhinein fragt man sich schon: Was musste vorgefallen sein, damit der Kanton zu dieser drastischen Massnahme griff? Warum ging das kommerzielle Unterschriftensammeln schweizweit einfach weiter, obwohl die Bundeskanzlei offenbar schon 2022 Strafanzeige eingereicht hatte? Und was wussten die politischen Komitees?

Auf welche Reaktion hoffen Sie nun?

Wir von der Stiftung für direkte Demokratie fordern in einem offenen Brief, dass der Verkauf von Unterschriften sofort gestoppt wird. Und zwar solange, bis man eine Lösung findet und das Vorgefallene aufgearbeitet hat.

«Wir brauchen eine schnelle Reaktion des Bundesrats.»

Dafür braucht es eine Gesetzesänderung – eine solche hat das Parlament in der Vergangenheit abgelehnt.

Ich bin sicher, dass das Parlament die Situation heute, in Kenntnis aller Fakten, anders beurteilen würde. Es wäre jedoch falsch, einen langwierigen Gesetzesprozess in Gang zu setzen, wir brauchen eine schnelle Reaktion des Bundesrats.

Was schwebt Ihnen vor? Notrecht?

Es ist nicht an mir, den genauen Weg zu skizzieren. Vermutlich braucht es eine kreative Lösung, beispielsweise über strenge Transparenzvorschriften. Einfach abzuwarten, wäre jedenfalls verheerend.

Die Vorwürfe wiegen schwer. Allerdings ist noch nicht gesichert, ob wir tatsächlich über Initiativen abgestimmt haben, die nicht hätten zustande kommen dürfen.

Das lässt sich leider nicht mehr ausschliessen. Ich schätze, dass in den letzten Jahren jede dritte Initiative einen mittleren bis hohen Anteil gekaufter Unterschriften hatte. Dies lässt sich aus der zugänglichen Sammelstatistik nach Kantonen herauslesen. Für mich ist es plausibel, von Zehntausenden potenziell gefälschten Unterschriften auszugehen.

Wie kommen Sie auf diese Zahl?

Wenn allein der Kanton Waadt seit 2019 mehrere Tausend gefälschte Unterschriften aufgedeckt hat, wird die Dunkelziffer aller Kantone zusammen eine fünfstellige Zahl erreichen. Zugegeben, das ist eine Milchbüchleinrechnung. Hätten wir mehr öffentlich zugängliche Daten, etwa wie viele Unterschriften in den Gemeinden und Kantonen für ungültig erklärt worden sind, wären präzisere Analysen möglich.

Gegen wen richtet sich Ihre Kritik ganz konkret?

Ich möchte nicht auf Personen zeigen. Das Grundproblem liegt im System: Die Art und Weise, wie die Ämter heute Unterschriften auf Papier prüfen, ist nicht mehr zeitgemäss. Adress- und Geburtsdaten sind schnell beschafft. Das System fusst auf gegenseitigem Vertrauen. Keine Partei konnte es sich früher leisten, ihren Ruf mit gefälschten Unterschriften zu ruinieren. Heute, mit den kommerziellen Firmen, ist die Situation eine ganz andere. Das ist, wie wenn Sie heute noch mit Windows 98 arbeiten, während Sie von Profi-Hackern angegriffen werden.

Um bei Ihrem Bild zu bleiben: Welches Update braucht es Ihrer Meinung nach?

Ich befürworte schon lange, dass Unterschriften auch elektronisch gesammelt werden können. Beim sogenannten E-Collecting könnte man die Handynummer hinterlegen. Dann bekäme man nach dem Signieren einer Initiative ein SMS: «Waren Sie das – ja oder nein?» Eine andere Möglichkeit wäre, die Unterschrift mit der E-ID zu koppeln – also mit dem digitalen Pass, den wir bald alle erhalten.

Daniel Graf.
Daniel Graf, Präsident Stiftung für Demokratie: Fordert sofortiges Moratorium für bezahlte Sammlungen.
02.09.2024
(RAHEL ZUBER/TAGES-ANZEIGER)

Wird ein solches System gehackt, sind Manipulationen im grossen Stil möglich. Wollen Sie das riskieren?

Gegenfrage: Gehen Sie heute noch zum Postschalter, wenn Sie eine Zahlung machen müssen? Wir vertrauen heute schon in sehr vielen Lebensbereichen auf elektronische Systeme. Natürlich kann man Betrug nie zu hundert Prozent ausschliessen. Aber ich bin sicher, dass man Manipulationen in digitalisierten Systemen schneller bemerkt und transparenter nachvollziehen kann, was passiert ist.

Ein anderes Gegenargument lautet: Es entstünde faktisch eine Gesinnungsdatenbank, die speichert, wofür oder wogegen ich mich politisch engagiere.

Dafür gibt es Datenschutzgesetze.

Weshalb kaufen denn überhaupt so viele Parteien Unterschriften? Eigentlich müsste man ja meinen, mit dem Bevölkerungswachstum werde es immer einfacher, 100’000 Unterschriften zu sammeln.

Das Gegenteil ist der Fall: Es wird schwieriger und darum steigen auch die Preise der Sammelfirmen. Früher wurde viel vor den Abstimmungslokalen gesammelt, heute stimmt ein Grossteil der Menschen brieflich ab. Generell bleiben auf der Strasse weniger Leute stehen, um sich ein Anliegen anzuhören. Ein guter Sammler erhält pro Stunde vielleicht zehn Unterschriften – rechnen Sie mal, wie viele Stunden Freiwilligenarbeit es für eine ganze Initiative braucht!

Wie lukrativ ist das Geschäft für die Sammelfirmen?

Manche Firmen verlangen für eine Unterschrift rund sieben Franken – wenn die Zeit drängt, auch mehr. Vieles deutet darauf hin, dass die Arbeitsbedingungen der Sammelnden nicht besonders gut sind. Das heisst, die Gewinnmarge für die Firma dürfte ziemlich hoch sein. Neben den Sammelfirmen gibt es auch noch Vermittlerbüros. Wir sprechen hier von einem Millionenbusiness.

Sie verorten sich im linksliberalen Lager. Gefälschte Unterschriften dürften links wie rechts ein Problem sein, einverstanden?

In den letzten zehn Jahren haben vermutlich politische Organisationen aus allen Lagern mit bezahlten Unterschriften experimentiert. Ich würde jedoch behaupten, dass viele Komitees wieder davon abgekommen sind, weil sie das Risiko erkannt haben. Dazu passt, dass es mit Noémie Roten die Initiantin der Service-Citoyen-Initiative war, die aufgrund ihrer eigenen Erfahrung mit Betrügereien das Schweigen gebrochen hat und damit eine überfällige Debatte ermöglicht.

Wer setzt heute noch relativ systematisch auf bezahlte Unterschriften?

Im Umwelt- und Tierschutz kommen mir einige Beispiele in den Sinn, die Zugang zu Finanzen haben, aber denen schlicht das Netzwerk fehlt, um eine solche Initiative aus eigener Kraft zu stemmen. Zudem gibt es im bürgerlichen Lager Komitees, die über sehr viel Geld verfügen und im Extremfall ganze Initiativen kaufen.

Können Sie das belegen?

Bezahlte Unterschriften haben zum Beispiel bei der Blackout-Initiative eine grosse Rolle gespielt. Ein Indiz sind die hohen Sammelquoten in der Waadt, wo die Firmen besonders aktiv sind. Dazu wurde eine Rechnung von Incop Suisse über 75’390 Franken für 10’000 Unterschriften publik. Belegt ist auch die Zusammenarbeit der Firma Pôle Swiss – und das Komitee hat bezahlte Unterschriften nie bestritten.

Kommerzielles Sammeln ist ja bisher auch erlaubt. Längst nicht alle Anbieter tricksen. Finden Sie es trotzdem in jedem Fall verwerflich?

Aus einer liberalen Perspektive müsste es für die Stimmbürgerinnen zumindest transparent sein, wie eine Volksinitiative zustande gekommen ist. Aus einer moralischen Perspektive muss ich sagen: Ich finde es eine grauenhafte Vorstellung, in einer Demokratie zu leben, in der eine Unterschrift oder eine komplette Initiative eine Ware ist, die man bestellen kann wie eine Pizza. Darüber müssen wir als Gesellschaft dringend reden.