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Meinung

Kommentar zum Unterschriften-Bschiss
Das ist ein Fiasko für unsere Demokratie

Gewitterwolken ziehen am Montag, 30. Mai 2011 ueber das Bundeshaus in Bern. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
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Gibt es etwas, auf das wir Schweizerinnen und Schweizer stolzer sind als auf unsere direkte Demokratie?

Die eidgenössische Volksinitiative und das Referendum bilden die linke und die rechte Herzkammer unseres Staatswesens. Nichts unterscheidet unser politisches System stärker von anderen Ländern als diese beiden Instrumente. Viermal pro Jahr können wir an der Urne über Volksbegehren abstimmen – und so den Mächtigen im Bundeshaus zeigen, wo es langgeht.

Nun zeigen Recherchen dieser Redaktion, dass es genau hier, im Herzen unseres Staates, gravierende Missstände gibt. Kommerzielle Sammlerinnen und Sammler fingieren, erfinden, fälschen und kopieren Unterschriften für Initiativen und Referenden. Nicht in Einzelfällen, sondern im grossen Stil. Aufmerksame Gemeindeangestellte, vor allem in der Romandie, haben seit 2019 Tausende fingierte Unterschriften entdeckt. Fachleute, die die Prozesse kennen, sagen aber: Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Clevere Trickser können die Unterschriften problemlos so fälschen, dass keine Kontrolleurin etwas merken kann.

Derzeit sind beim Bund 16 Volksinitiativen hängig, die in den nächsten zwei, drei Jahren vors Volk kommen werden. Können wir am Tag der Abstimmung sicher sein, dass sie alle rechtmässig zustande gekommen sind? Bei gewissen Initiativen nicht, sagen Fachleute und Verantwortliche in den Kantonen. Vor allem bei Volksbegehren, die viele bezahlte Sammler einsetzten und die benötigten 100’000 Unterschriften nur knapp erreichten, sind grosse Zweifel angebracht.

Der Bund weiss vom Unterschriften-Bschiss, doch niemand schritt ein

Umso irritierender ist es, dass es eine journalistische Recherche brauchte, um dieses Problem auf das Tapet zu bringen. Demnach hat der Bund bereits vor fünf Jahren von Unregelmässigkeiten erfahren. Seit etwa zwei Jahren weiss er, dass die Zahl fingierter Unterschriften schnell wächst. 

Die Bundeskanzlei blieb zwar nicht untätig. Sie hat schon 2022 die Bundesanwaltschaft eingeschaltet, Beweismaterial zusammengetragen und die Verantwortlichen in den Kantonen für das Fälschungsproblem sensibilisiert. Aber eine offizielle Information der Öffentlichkeit und des Parlaments blieb aus. Auch traf niemand Massnahmen, um den offensichtlich extrem betrugsanfälligen Unterschriftenprozess sicherer zu machen.

Der Fälscherskandal trifft unsere Demokratie zu einem schlechten Zeitpunkt. Das Vertrauen in den Abstimmungsprozess ist ohnehin angeknackst, seitdem vor vier Wochen bekannt wurde, dass das Volk auf Basis falscher Zahlen über die AHV-Revision entschieden hat. Zuvor waren schon die Abstimmungsinformationen bei der Unternehmenssteuerreform II und der Abschaffung der Heiratsstrafe irreführend bis falsch. Wenn nun auch noch Zweifel am Prozess vor der Abstimmung aufkommen, wird das Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürger in unseren Staat weiter schwinden.

Unterschriften-Betrug: Bundesrat argumentiert naiv

Der Bundesrat schrieb 2020 in einer Antwort auf einen parlamentarischen Vorstoss, es liege «in der Verantwortung der Komitees, sicherzustellen, dass für ihr Volksbegehren mit lauteren Methoden gesammelt wird». Mit Verlaub: Das ist naiv. Wenn ein Initiativkomitee kurz vor Ablauf der Sammelfrist verzweifelt um die letzten Unterschriften kämpft: Welches Interesse hat es dann, dubiose Sammler und zweifelhafte Unterschriftenbögen auszusortieren?

Der Bundesrat – oder wenn nötig das Parlament – müssen handeln. Rasch! Kurzfristig müssen sie der Öffentlichkeit erklären, wie sie bei allen laufenden Unterschriftensammlungen weitere Fälschungen verhindern. Wenn dafür ein vorübergehendes Totalverbot des bezahlten Sammelns nötig ist, dürfen Bundesrat und Parlament auch davor nicht zurückschrecken.

In einem zweiten Schritt muss das heutige Beglaubigungs- und Kontrollprozedere bei Volksinitiativen und Referenden sicherer und betrugsfest gemacht werden. Ein dauerhaftes Verbot des kommerziellen Sammelns wäre der einfachste Weg. Im Minimum muss aber dieser undurchsichtige Sektor reguliert werden: Die Sammelunternehmen müssten einer Bewilligungspflicht unterstellt und engmaschig kontrolliert werden. Auch das sogenannte E-Collecting könnte ein Ausweg sein. Dabei würden Volksinitiativen und Referenden am Touchscreen unterzeichnet – so ähnlich, wie wir der Pöstlerin an der Haustür einen eingeschriebenen Brief quittieren.

Vielleicht gibt es noch andere, bessere Optionen. Nur nichts zu tun, ist keine Option.

Mit diesem Kommentar verabschiedet sich Markus Häfliger als Bundeshausredaktor des «Tages-Anzeigers» und der Tamedia-Zeitungen. Er hatte diese Funktion seit März 2016 inne. Im Podcast «Politbüro» erzählt Markus Häfliger von seinen Erfahrungen während insgesamt 22 Jahren als Bundeshaus-Redaktor.