Umstrittener WahlausgangGeorgien wählt irgendwo zwischen Russland und Europa
Es ging um viel bei der Wahl in Georgien, um die Richtung EU – oder Kreml. Aber während die Regierung sich an ihrem Sieg berauscht, hat nicht nur die Opposition Zweifel am Ergebnis.
- Die georgische Regisseurin Lana Gogoberidse ist enttäuscht über das Wahlergebnis.
- Die Regierungspartei Georgischer Traum beansprucht den Sieg mit 54 Prozent der Stimmen.
- Internationale Beobachter zweifeln an der Echtheit der Wahlergebnisse.
- Oppositionsparteien akzeptieren das Ergebnis nicht und fordern Gerechtigkeit.
Der Schalenberg auf dem Porzellanteller wächst, Lana Gogoberidse knabbert Sonnenblumenkerne gegen die Nervosität. Sie starrt auf den Fernseher in der Wohnzimmerecke. Es läuft der beliebte regierungskritische Sender TV Pirveli. Gogoberidse ist 96 Jahre alt, eine der berühmtesten Filmemacherinnen des Landes, und jetzt will sie wissen, wie Georgiens Schicksalswahl ausgegangen ist.
Vor zwei Stunden hatte der Sender die Exit-Polls veröffentlicht, die Nachwahlbefragungen, da lag die Opposition vorn. Die Regisseurin wirkte entspannt. Dass der regierungsnahe Sender Imedi gleichzeitig die Regierungspartei Georgischer Traum deutlich gewinnen sah, überraschte sie nicht. «Die einen sagen so, die anderen so.» Da lächelte sie. Noch.
Aber jetzt redet auf dem Schirm ein Mann von der Zentralen Wahlkommission und verkündet ein Ergebnis, das Lana Gogoberidse fassungslos macht. Sie schüttelt den Kopf: etwa 54 Prozent für die Regierungspartei Georgischer Traum. Die Opposition hat demnach die Wahl verloren. «Wird es hier jetzt werden wie in Belarus?», fragt die Regisseurin. Wie in einem repressiven Land also, in dem die Opposition abgeschafft ist? «Sie werden es doch hoffentlich nicht wagen.» Darin ist sie sich sicher: «Das Ergebnis ist nicht ehrlich.» Es ist zu spüren, wie die Frau in diesen Minuten leidet. Sie sitzt still auf der Couch und schaut Nachrichten.
Lana Gogoberidse ist zum Wahlabend in Tiflis in die Wohnung ihrer Tochter gekommen. Auch ihre zweite Tochter ist da, die Enkelkinder, ein paar Freunde. Auf dem Esstisch stehen Teller mit selbst gemachten Chatschapuri, dem georgischen Käsebrot im Pizzaformat, es gibt Tomaten und Gurken, Weintrauben, Walnüsse und Kakifrüchte vom eigenen Baum. Die Familie zusammen, an so einem wichtigen Tag.
Alle sehen die Fernsehbilder, Videoschnipsel, auf denen es an Wahllokalen zu Handgreiflichkeiten kommt, ein Mann einen Packen Wahlzettel in eine Urne steckt. Die Opposition sprach von einer Provokation der Regierungspartei, die Regierungspartei erklärte, die Opposition habe den Mann beauftragt, um zu provozieren. Es ist eine unversöhnliche Zeit in Georgien.
Und am Abend dann die Siegesmienen. Bei den Führern der vier Oppositionsbündnisse, die auf dem geteilten Fernsehbildschirm alle gleichzeitig gezeigt werden. Sie glauben gewonnen zu haben, reden schon über mögliche Koalitionsgespräche. Aber auch die Regierungspartei jubelt, spricht von den nächsten vier Jahren, die sie Georgien weiter regieren werde. Nach den meisten Umfragen hatte sie eher mit etwa 35 Prozent der Stimmen rechnen können.
Wie es weitergeht? Das weiss niemand
Der englischsprachige Experte des Umfrageinstituts Edison Research wird im Fernsehen zugeschaltet. Er sagt, er sei schockiert, dass die Exit-Polls und das offizielle Wahlergebnis so weit auseinanderlägen. Er könne sich das nicht erklären. Ähnlich äussert sich Frank Schwabe, deutscher Wahlbeobachter für den Europarat, in einem Post auf X. In den mehr als ein Dutzend Wahllokalen, in denen das Team des Europarats die Auszählung beobachte, komme die Regierungspartei nirgendwo auf über 50 Prozent, schreibt er. Die Auszählung läuft noch, Ungarns Premier Viktor Orban will aber nicht abwarten und gratuliert schon mal der georgischen Regierung zum Sieg.
Noch am späten Samstagabend erklären mehrere Oppositionsbündnisse, dass sie das Ergebnis so nicht hinnehmen wollen. Tina Bokutschawa, Chefin der Vereinten Nationalen Bewegung, sagt: «Wir geben unsere europäische Zukunft nicht auf und werden die gestohlenen Wahlergebnisse, die verkündet wurden, nicht akzeptieren.»
Auf den Strassen ist am Samstag nur vereinzeltes Gehupe zu hören, keine Feiern, kein spontaner Protest. Als würden die Menschen jetzt lieber daheim in ihren Wohnzimmern bleiben. Wie es weitergeht in Georgien, weiss da niemand. In dem, was die internationalen Beobachter der OSZE zur Wahl erklären, ist für alle etwas dabei. Die Abstimmung sei gut organisiert gewesen, ein Beispiel für «demokratische Vitalität». Aber sie erwähnen auch Druck der Behörden auf Wähler, Fälle von Einschüchterung, Stimmenkauf und mehrfachen Abstimmungen.
Lana Gogoberidse aber hat diesen Wahltag lange herbeigesehnt. Darum geht es ja für sie: ob Georgien mit einem Sieg der Opposition den Weg zurück in Richtung Europäische Union findet. Oder ob die Regierungspartei Georgischer Traum mit ihrem autoritären Kurs weitermacht, Russland zugeneigt, der EU eher abgewandt. Im Juni hatte die Europäische Union deshalb Georgiens Status als Beitrittskandidat gestoppt.
Es ist Samstagmittag, als die Regisseurin Gogoberidse zur Abstimmung aus dem Haus geht. Sie hat sich chic gemacht, trägt eine schwarze Nadelstreifenhose, einen schwarzen Samtblazer, einen bunten Schal. Ihr Wahllokal ist in der staatlichen Schule Nr. 51, vor mehr als 80 Jahren ist Lana Gogoberidse hier zur Schule gegangen.
Schicksalswahl für Jahrzehnte. «Vielleicht sogar für immer»
Sie weist sich vor den Wahlhelfern aus, lässt ihre Finger einsprayen, damit sie nicht noch einmal kommen kann, und stimmt für das Oppositionsbündnis Starkes Georgien. Zum ersten Mal in Georgien wird die Abstimmung direkt elektronisch erfasst und übermittelt, jedenfalls in 90 Prozent aller Wahllokale. Praktisch fälschungssicher, hiess es.
Danach läuft Gogoberidse nach Hause, die Filmemacherin wohnt im sechsten Stock eines Wohnhauses im Zentrum von Tiflis, mit Aussicht auf die sanften Hügel am Rand der Hauptstadt. Sie entstammt einer grossen Künstlerfamilie und ist nach wie vor viel unterwegs, für ihren Film «Mutter und Tochter» war sie in Wien, London. Sie erzählt dort gern von ihrem Land, das sie als durch und durch europäisch empfindet. Die Wahl bestimme nun das Schicksal Georgiens nicht nur für zwei oder drei Jahre, sondern für Jahrzehnte, sagt sie. «Vielleicht sogar für immer.»
Sie war noch keine zehn Jahre alt, als ihr Vater, ein Kommunistenkritiker, in der Stalin-Zeit verhaftet und getötet wurde, ihre Mutter, die erste Frau, die als Regisseurin georgische Spielfilme drehte, wurde für zehn Jahre in Lagerhaft gesteckt. Sicher, Lana Gogoberidse selbst war in der späteren Sowjetzeit erfolgreich und wurde berühmt. Trotzdem empfand sie es als grosses Glück, als die Sowjetunion zerfiel und Georgien ein unabhängiger Staat wurde.
Vor einer Woche hatte die georgische Bevölkerung noch einmal ein letztes grosses Zeichen vor der Abstimmung gesetzt. Fast 100’000 Menschen liefen sternförmig auf den zentralen Freiheitsplatz zu. Eine Demonstration des Europawillens. Lana Gogoberidse wollte dabei sein, mitmarschieren, 96 Jahre hin oder her. Ihre Enkelin redete ihr das aber aus, es wäre wohl zu anstrengend gewesen.
Die Filmemacherin findet, dass sich der mächtige Parteigründer und Ehrenvorsitzende von Georgischer Traum, Bidsina Iwanischwili sehr verändert habe. Sie hat ihn kennen gelernt. Denn sie war auch als Politikerin aktiv, in den Wirren der Neunzigerjahre, für einige Jahre war sie liberale Abgeordnete im Parlament, später Delegationsleiterin, als Georgien Mitglied des Europarats wurde. 2012 tauchte Iwanischwili in der Politik auf.
Iwanischwili war «sehr sozial, neugierig und sehr reich»
«Er war sehr sozial, neugierig, selbstsicher – und sehr reich natürlich», erinnert sich Gogoberidse, Iwanischwili hatte den georgischen Staat schon unterstützt, stattete mit seinem Geld die georgische Polizei mit neuer Kleidung aus. Er baute Kirchen, sanierte die Oper in Tiflis. Als der Georgische Traum die Wahl im Herbst vor zwölf Jahren gewann, erlebte das Land einen friedlichen Machtwechsel, der die Welt erstaunte. Wann gab es das schon in einem der Länder der früheren Sowjetunion?
Heute wird ihm der Annäherungskurs gegenüber Russland zugeschrieben. «Er und der Georgische Traum sagen jetzt Dinge, die ich nicht verstehen kann», sagt Gogoberidse. Sie meint zum Beispiel seine Ankündigung, die oppositionellen Parteien nach der Wahl verbieten zu wollen. Was jetzt schwer werden dürfte, denn dazu hätte die Regierungspartei 60 Prozent der Stimmen gebraucht.
Vielleicht werde es eine grosse Demo geben, sagt Gogoberidse. Ob sie selber mitmachen würde? «Ich bin fast hundert, da kann ich nicht auf jede Demonstration gehen», sagt sie. Aber ihre Enkelinnen würden für sie hingehen.
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