Ukraine-Blog: Fotos, Fakes und FragenVerschleppter Ukrainer (17) darf in sein Heimatland zurück
Erst wurde er aus der Ukraine entführt, dann sollte er in die russische Armee einberufen werden. Jetzt hat Bogdan Ermochins Geschichte ein positives Ende gefunden.
Bogdan Ermochin wuchs in der Ukraine auf. Er lebte in Mariupol – bis die russische Armee die Stadt im Osten der Ukraine im Mai 2022 einnahm. Dann wurde der damals 16-Jährige gemeinsam mit 30 weiteren Kindern nach Russland verschleppt; er lebt seither in einem Vorort von Moskau in der Obhut einer Russin.
Zunächst sah es so aus, als ob Ermochins Geschichte eine schlimme Wendung nehmen würde: Er sollte gegen sein eigenes Land in den Krieg geschickt werden. Denn der Teenager erhielt eine Vorladung zum russischen Militärregistrierungs- und Einberufungsamt in der Nähe von Moskau. Laut seiner Anwältin Ekaterina Bobrowskaya hätte er Mitte Dezember bei den Behörden erscheinen müssen – einen Monat nach seinem 18. Geburtstag.
Er bat Selenski um Hilfe
Ermochin hatte sich in einem von seiner Anwältin in Online-Netzwerken verbreiteten Video direkt an den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski gewandt. «Ich bitte Sie, mir zu helfen, nach Hause zurückzukehren», sagte Ermochin darin.
Am Freitag wurde eine weitere Wendung in Ermochins Geschichte publik – diesmal eine positive. Der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinets, und die Kinderrechtsbeauftragte Maria Alexejewna Lwowa-Belowa des Kreml bestätigten am Freitag unabhängig voneinander ein Abkommen über die Rückkehr Ermochins.
Rückkehr über einen Drittstaat
Ermochin werde «bald in der Ukraine sein», erklärte der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Lubinets am Freitag im Onlinedienst Telegram. Es gebe eine «Abmachung» über die Rückkehr. Die russische Kinderrechtsbeauftragte Lwowa-Belowa erklärte, beide Länder hätten sich auf eine Rückkehr Ermochins zu seiner Cousine geeinigt, die dessen gesetzliche Betreuerin ist. Die Rückkehr solle über «einen Drittstaat» am 19. November erfolgen, Ermochins 18. Geburtstag.
Dass in dem prominenten Fall eine Einigung mit Maria Lwowa-Belowa möglich war, ist aussergewöhnlich. Sie spielt bei der Verschleppung von ukrainischen Kindern eine zentrale Rolle und macht in Russland unter anderem Propaganda für die Adoption ukrainischer Kinder. Im März 2023 erliess der Internationale Strafgerichtshof wegen mutmasslicher Kriegsverbrechen in der Ukraine einen Haftbefehl gegen die 39-Jährige.
Vor der Einigung rechneten sich Beobachter des Falls schlechte Chancen aus. Ermochins Anwältin Ekaterina Bobrowskaya hatte gegenüber dem ukrainischen Portal «Grati» gesagt, sie habe «keine Zweifel mehr an Russlands Plänen». Wenn Bogdan in drei Wochen 18 Jahre alt werde, sei er erwachsen und werde «höchstwahrscheinlich zum Militärdienst in die russische Armee geschickt», so Bobrowskaya.
Beschwerde bei den Behörden
Nach Angaben der Anwältin kam es zu zwei Treffen mit den Behörden. Darunter auch mit Lwowa-Belowa. Doch dort soll es zu Einschüchterungsversuchen gekommen sein: Laut Bobrowskaya verfasste Ermochin bei dem Treffen eine Erklärung, dass er bis zum Erreichen der Volljährigkeit in Russland bleiben wolle.
Nach dem Gespräch erzählte er seiner Anwältin, dass Lwowa-Belowa ihm mit der Einweisung in eine psychiatrische Klinik gedroht habe, sollte er die Erklärung nicht gutheissen. Wieso mit Lwowa-Belowa doch noch eine Einigung gefunden werden konnte, blieb zunächst unklar.
Trotz früher Schicksalsschläge führte Ermochin bis zur Invasion ein normales Leben: Als Waisenkind lebte er bis zur Besatzung in Mariupol bei einer Pflegefamilie. Sein gesetzlicher Vertreter zum Zeitpunkt der Invasion war der Direktor der Hochschule von Mariupol. An dieser studierte der Junge – bis er im Mai schliesslich vom russischen Militär verschleppt wurde.
Systematische Verschleppung
Die russischen Behörden schleusen ukrainische Kinder systematisch nach Russland – und behalten sie dort mit allen Mitteln. Nach russischen Angaben hat das Land seit Februar 2022 mehr als 700’000 ukrainische Kinder «aufgenommen». Die ukrainischen Behörden sprechen von mindestens 20’000 ukrainischen Kindern, die sie identifizieren konnten.
Regelmässig tauchen weitere Berichte auf über vermisste Minderjährige, über Kinder, die in «Erholungscamps» geschickt werden – und nicht mehr von dort zurückkehren. Ob der Kreml weitere entführte Kinder in den Militärdienst schicken will, ist nicht bekannt. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Schicksale anders enden als dasjenige Ermochins.
Der Text wurde um 19.31 Uhr aktualisiert mit der Information, dass Ermochin in die Ukraine zurückkehren darf.
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