Ukraine-BlogNord-Stream-Pipelines: Hat Selenski den Anschlag genehmigt?
Neue Recherchen enthüllen brisante Erkenntnisse über die Beteiligten des Sabotageakts in der Ostsee. Gegen den ukrainischen Präsidenten steht ein schwerwiegender Vorwurf im Raum.
Die Theorien zu den Sprengungen der Nord-Stream-Pipelines im September 2022 haben schon zahlreiche Wendungen genommen. Zunächst wurde Russland verdächtigt, danach die Ukraine. Und zeitweise kursierten sogar Gerüchte über eine mögliche Verwicklung der USA. Handfeste Beweise blieben jedoch aus, und meistens verloren sich die Spuren im Nichts.
Diese Woche gab es nun neue Erkenntnisse über den spektakulären Sabotageakt. Die US-Zeitung «Wall Street Journal» (WSJ) sowie die deutschen Medien «Zeit», ARD und «Süddeutsche Zeitung», die mit den Tamedia-Zeitungen zusammenarbeitet, veröffentlichten zwei separate Recherchen über die Tatverdächtigen. Das Resultat: Alle Spuren führen in die Ukraine.
Laut dem WSJ steckt das ukrainische Militär hinter den Sprengungen. Insgesamt sollen rund 261’000 Franken von privaten Geschäftsmännern in die Operation investiert worden sein. Dies, weil die ukrainische Armee über keine eigenen Mittel verfügt habe und auf ausländische Finanzierung angewiesen gewesen sei. Eine fünf- bis sechsköpfige Schiffscrew, bestehend aus ausgebildeten zivilen Tauchern und Militärs, sei am 7. September 2022 mit einer Jacht aufs Baltische Meer hinausgefahren, wo die Sprengungen vorgenommen wurden. Brisant ist, dass anfänglich auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski die Aktion bewilligt haben soll.
Idee entstand in einer Partynacht
Das WSJ sprach mit vier hochrangigen ukrainischen Verteidigungs- und Sicherheitsbeamten, die entweder an dem Komplott beteiligt waren oder direkte Kenntnis davon hatten. Sie alle sagten laut der Zeitung, dass die Pipelines ein legitimes Ziel im Verteidigungskrieg der Ukraine gegen Russland gewesen seien.
Die Idee sei im Mai 2022 entstanden, bei einem Treffen einer Handvoll hochrangiger ukrainischer Offiziere und Geschäftsleute. Sie versammelten sich offenbar, um auf die Erfolge der Ukraine bei der Abwehr der russischen Invasion anzustossen. Unter dem Einfluss von «Alkohol und patriotischem Eifer» habe jemand die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines vorgeschlagen. «Das Ganze ist in einer durchzechten Nacht und aus der eisernen Entschlossenheit einer Handvoll Menschen entstanden, die den Mut hatten, ihr Leben für ihr Land zu riskieren», zitiert das WSJ einen involvierten Offizier.
Nach dem Treffen beschlossen sie, dass ein amtierender General mit Erfahrung in Sondereinsätzen die Sabotagemission in der Ostsee leiten soll. Dieser würde direkt an den damaligen Chef der ukrainischen Streitkräfte berichten, an General Waleri Saluschni.
Bis in die höchsten Regierungskreise sei man über die Pläne informiert gewesen, darunter auch Wolodimir Selenski. Laut dem WSJ hat der ukrainische Präsident die Operation innerhalb weniger Tagen genehmigt. Später erfuhr jedoch die CIA von den Plänen – und hielt Selenski dazu an, die Operation abzusagen. Daraufhin soll er einen Stopp angeordnet haben.
Doch der ukrainische Oberbefehlshaber Waleri Saluschni habe den Befehl ignoriert und weitergemacht. Er soll Selenski gesagt haben, dass das Sabotageteam, nachdem es entsandt worden war, von sämtlicher Kommunikation abgeschnitten war und nicht zurückgerufen werden konnte. Jeder Kontakt hätte die Operation gefährdet, wird Saluschni zitiert.
Die Jacht wurde über eine Briefkastenfirma gemietet
Im September 2022 haben die Saboteure eine Jacht in der deutschen Hafenstadt Rostock gemietet. Das 16 Meter lange Schiff namens Andromeda wurde laut dem WSJ über ein polnisches Reisebüro gemietet. Dieses sei vor knapp zehn Jahren vom ukrainischen Geheimdienst als Tarnung für Finanztransaktionen eingerichtet worden.
An Bord waren gemäss der US-Zeitung ein ukrainischer Offizier im aktiven Dienst sowie vier erfahrene Tiefseetaucher. Zur Besatzung gehörten auch Zivilisten, darunter eine Frau in den 30ern, die eine private Tauchausbildung absolviert hatte. Das Team sei mit Tauchausrüstung, Satellitennavigation, einem tragbaren Sonargerät und Karten des Meeresbodens ausgerüstet gewesen. Die vier Taucher sollen in Zweiergruppen gearbeitet haben. In den stockdunklen Gewässern haben sie laut Informationen des WSJ mit dem hochexplosiven Sprengstoff HMX gearbeitet. Dieser sei mit zeitgesteuerten Zündern verkabelt gewesen, die die Sprengung auslösten.
Im Juni 2023 sprach der federführende oberste deutsche Strafverfolger schliesslich einen Haftbefehl gegen einen der Taucher aus, Wolodimir Z. Gemäss der Recherche von «Zeit», «Süddeutscher Zeitung» und ARD handelt es sich dabei um einen in Polen lebenden Heizungsbauer aus der Ukraine. Zuvor arbeitete der 44-Jährige als Mitarbeiter in einer Kiewer Tauchschule. Zu seinen Qualifikationen gehörten unter anderem Tauchen in schwierigen Gewässern und in grosse Tiefen. Die Fahnder kamen ihm laut der Recherche offenbar über ein Foto aus einer Radarfalle in Rügen vom 8. September 2022 auf die Spur. Dort legte an diesem Tag die Andromeda an, bevor sie nach Dänemark weitersegelte.
Hielten polnische Behörden Dokumente zurück?
Trotz des Haftbefehls gelang es dem Ukrainer, unterzutauchen. Wie konnte das bei einem solch brisanten Fall passieren? Laut der deutschen Recherche werfen deutsche Ermittler den polnischen Behörden vor, unsauber gearbeitet zu haben. Ermittlungsmaterial sei zurückgehalten worden, und stattdessen habe man überwiegend nutzlose Informationen geteilt. Gemäss der «Süddeutschen Zeitung» (SZ) gibt es den Verdacht, die polnischen Behörden hätten die deutschen Ermittler zwischenzeitlich bewusst in die Irre führen wollen. Polen habe starkes Interesse daran, Russland zu schwächen. Der russische Aggressor habe dem Land den Krieg schliesslich vor die Haustür gebracht, so die SZ.
Ein Geständnis von den mutmasslichen Involvierten zu erhalten, dürfte schwierig sein. Der Taucher Wolodimir Z. stritt gegenüber den deutschen Medien ab, an der Nord-Stream-Sabotage beteiligt gewesen zu sein. Der damalige General Saluschni, der inzwischen Botschafter der Ukraine in London ist, teilte dem WSJ mit, er wisse nichts von einer solchen Operation und jede gegenteilige Behauptung sei eine «reine Provokation».
Informierte ukrainische Beamte sagten dem WSJ, es sei «unmöglich», einen der befehlshabenden Offiziere vor Gericht zu stellen. Sämtliche Absprachen seien mündlich abgelaufen, Beweise gebe es keine. «Keiner der Beteiligten wird aussagen, um sich nicht selbst zu belasten», sagte ein ehemaliger Offizier.
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