Berichte und VideosHinrichtungen von ukrainischen Kriegsgefangenen nehmen zu
Es häufen sich Meldungen über mutmassliche Kriegsverbrechen russischer Soldaten. Die UNO warnt vor verheerenden Missständen und «systematischer Folter».
- Ein Video zeigt die mögliche Massenexekution ukrainischer Kriegsgefangener durch russische Streitkräfte.
- Verschiedene Berichte von systematischen Hinrichtungen ukrainischer Soldaten kursieren in den Medien.
- Ein neuer UNO-Bericht dokumentiert weitverbreitete Folter und unmenschliche Bedingungen in russischer Gefangenschaft.
- Verstösse gegen das Genfer Abkommen könnten als Kriegsverbrechen geahndet werden.
16 Menschen treten aus einem Waldgebiet heraus. Sie reihen sich in einer Linie auf. Plötzlich fallen Schüsse. Die Personen sacken in sich zusammen und kippen um. Danach nähern sich aus dem Waldstück Personen, die aus nächster Nähe nochmals auf die Gruppe schiessen. Die Szene ist Teil eines Videos, das Anfang Oktober auf verschiedenen Telegram-Kanälen kursierte. Laut einem Statement der ukrainischen Behörden handelt es sich dabei um die «grösste Massenexekution» von ukrainischen Kriegsgefangenen, die von Russland seit Beginn der Grossinvasion begangen wurde.
Unabhängig verifiziert wurde der Vorfall bisher nicht. Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmitro Lubinez erklärte auf Telegram, er habe sich wegen der Todesfälle an die Vereinten Nationen gewandt. Russland führe in «neuem Ausmass» Hinrichtungen von Kriegsgefangenen durch.
In den vergangenen Wochen kursierten zahlreiche weitere Berichte und Videos von mutmasslichen Hinrichtungen ukrainischer Kriegsgefangener durch russische Streitkräfte. Am 10. Oktober wurden gemäss ukrainischen Berichten in Kursk neun ukrainische Soldaten erschossen, die sich ergeben wollten. Zu dem Fall schrieb das in Washington ansässige Institut für Kriegsstudien (ISW), ein Bild nach der Hinrichtung zeige, dass die russischen Streitkräfte die ukrainischen Kriegsgefangenen entwaffnet, aufgereiht und entkleidet erschossen hätten. «Ein klarer Hinweis auf den vorsätzlichen Charakter der Hinrichtungen», so das ISW.
ISW-Bericht: «Systematische Hinrichtungen» nehmen zu
Im September berichtete bereits der US-Sender CNN von Tötungen ukrainischer Kriegsgefangener. CNN untersuchte eine Liste des ukrainischen Geheimdienstes mit 15 Fällen von Hinrichtungen seit vergangenem November. Es gebe ein «Muster von offensichtlichen Hinrichtungen, die in diesem Jahr anscheinend an Häufigkeit zunehmen».
Zu einem ähnlichen Schluss kommt das ISW in einem Bericht vom Montag: «Die russischen Streitkräfte haben in letzter Zeit vermehrt systematische Hinrichtungen ukrainischer Kriegsgefangener vorgenommen.»
Wie viele ukrainische Soldaten in Gefangenschaft getötet worden sind, ist unklar. Es kursieren verschiedene Zahlen. Anfang Oktober nannte das ukrainische Verteidigungsministerium mindestens 170 Kriegsgefangene, die seit der russischen Vollinvasion in Gefangenschaft verstorben sind. Die tatsächliche Anzahl getöteter Kriegsgefangener dürfte jedoch weitaus höher sein, sagte Wiktoria Zimbaljuk, Vertreterin der ukrainischen Koordinationszentrale für die Behandlung von Kriegsgefangenen, der US-Zeitung «Politico».
UNO: «Systematische Folter» von Kriegsgefangenen
Die beschriebenen Fälle verstossen gegen das dritte Genfer Abkommen. Dieses besagt, dass Kriegsgefangene «unter allen Umständen mit Menschlichkeit zu behandeln» seien. Das humanitäre Völkerrecht nennt ausserdem Mindestbedingungen für die Haft, unter anderem hinsichtlich Ernährung, Kleidung, Hygiene und medizinischer Versorgung.
Ein neuer Bericht der Menschenrechtskommission der UNO von Anfang Oktober zeigt, dass Russland auch diese Mindestanforderungen massiv verletzt. Die UNO warnte vor «weitverbreiteter und systematischer» Folterung ukrainischer Kriegsgefangener.
In dem Bericht wurden 174 ehemalige ukrainische Soldaten befragt, die seit März 2023 in russische Gefangenschaft geraten waren. Fast alle Interviewten (169) gaben «übereinstimmend und detailliert» an, während ihrer Gefangenschaft gefoltert oder misshandelt worden zu sein. «Täglich oder wöchentlich kommt es zu Fällen von Folter. Minimale Sicherheitsvorkehrungen, die dazu beitragen sollen, Folter zu verhindern, sind nicht vorhanden oder unwirksam», so die UNO.
Es wird von zahlreichen Foltermethoden berichtet
Zu den immer wiederkehrenden russischen Foltermethoden gehören laut Bericht: schwere Schläge, Elektroschocks, Ersticken, lange Stresspositionen, exzessive Sportübungen, Schlafentzug, Scheinhinrichtungen, Androhung schwerer Gewalt gegen die Person oder ihre Familie und Demütigung. Auch sexuelle Gewalt und deren Androhung komme häufig vor, so der Bericht. Mindestens zehn Personen sind in Gefangenschaft gestorben.
Der UNO-Bericht führt auch Fälle von Folter auf ukrainischer Seite auf, die seit März 2023 an russischen Kriegsgefangenen begangen wurden. Von 205 interviewten Soldaten berichteten 104 von Misshandlungen. Dazu gehörten vor allem Schläge und die Androhung von Gewalt. Der Bericht hält fest, dass Gewalt jedoch in fast allen Fällen nur in der Anfangsphase der Gefangenschaft vorkam. «Diese Fälle hörten auf, sobald sie in das Gefängnissystem kamen», heisst es im Rapport. Im Gegensatz zu Russland haben in der Ukraine unabhängige Beobachter uneingeschränkten Zugang zu den russischen Kriegsgefangenen.
Verstösse gegen die Genfer Konventionen gelten als Kriegsverbrechen. Verantwortliche Einzelpersonen können dafür vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden. Gegen Putin liegt seit eineinhalb Jahren ein solcher internationaler Haftbefehl wegen der Verschleppung ukrainischer Kinder vor. Manche Auslandsreise tritt der Autokrat dennoch an. Als er vergangenen September in die Mongolei reiste, ein Land, das das Abkommen ratifiziert hat, passierte nichts. Dort liess man ihn gewähren.
Fehler gefunden?Jetzt melden.