Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Ukraine-Blog
Sie wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt: «Was ist mein Verbrechen?»

«Ich verdiene es nicht, hier zu sein»: Die Ukrainerin Tetjana Potapenko wurde als Kollaborateurin verurteilt.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Seitdem die russische Armee Teile der Ukraine besetzt, stehen viele Einwohner vor der Wahl: flüchten oder sich mit den Besatzern arrangieren. Letzteres kann allerdings juristische Probleme nach sich ziehen. Seit dem Beginn der russischen Vollinvasion wurden bis vergangenen Juni über 9000 Ukrainer und Ukrainerinnen angeklagt, mit den russischen Besatzern kollaboriert zu haben. Verurteilt werden kann laut einem neuen Gesetz von 2022, wer die Invasion in Person oder im Internet unterstützt oder wer eine politische oder militärische Rolle für die Besatzungsmacht übernahm.

Doch nicht immer sollen diese Verurteilungen berechtigt sein: Ein neuer Bericht der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Zmina kommt zum Schluss, dass die Gesetzgebung zu schwammig gefasst sei. So seien auch Personen verurteilt worden, die in den besetzten Gebieten «lebenswichtige Funktionen» ausübten.

Sie lieferte für die Russen Medikamente aus

Ein solcher Fall ist derjenige der Ukrainerin Tetjana Potapenko. Die britische Fernsehanstalt BBC besuchte die 54-Jährige in einem Gefängnis in der Nähe von Dnipro. Sie wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, da sie gemäss den Behörden illegal eine offizielle Rolle bei den russischen Besatzern übernommen habe – unter anderem bei der Verteilung von Hilfsgütern. «Ich verdiene es nicht, hier zu sein», sagte Potapenko gegenüber der BBC.

Potapenko ist urspr¨ünglich aus Liman, einem Dorf in der Nähe der Frontlinien im Donbass. Der Ort wurde 2022 während sechs Monaten von Russland besetzt. «Der Winter war vorbei, die Leute hatten kein Essen mehr, jemand musste sich für sie einsetzen», sagt sie.

Vor der russischen Vollinvasion kommunizierte Potapenko mit den örtlichen Behörden, um ihre Nachbarn – oft alte Menschen – mit Materialien wie Brennholz zu versorgen. Ein Freund habe sie überzeugt, sich auch während der russischen Besetzung für die Dorfgemeinde einzusetzen und die Lieferung von dringend benötigten Medikamenten zu übernehmen.

Ukrainerin fragt: «Was ist mein Verbrechen?»

Sie habe nicht freiwillig mit den Besatzungsbehörden zusammengearbeitet, sagt die Ukrainerin. «Ich habe erklärt, dass behinderte Menschen keinen Zugang zu den dringend benötigten Medikamenten haben.» Jemand habe sie gefilmt und ein Video ins Internet gestellt. Dieses habe die ukrainische Staatsanwaltschaft benutzt, um zu behaupten, sie habe kollaboriert. Nach der Befreiung von Liman wurde sie angeklagt, eine offizielle Funktion bei den Besatzungsbehörden übernommen zu haben.

«Was ist mein Verbrechen? Für meine Leute zu kämpfen?», fragte Potapenko gegenüber der BBC. Sie habe nie mit den Russen zusammengearbeitet: «Ich überlebte, und nun bin ich im Gefängnis.»

Die Realität vor Ort müsse berücksichtigt werden

Das 2022 neu erlassene Gesetz zur Kollaboration solle verhindern, dass Ukrainer der russischen Armee helfen, erklärte Onissia Sinjuk, Rechtsexpertin am Zmina-Menschenrechtszentrum in Kiew, gegenüber der BBC: «Das Gesetz umfasst jedoch alle Arten von Aktivitäten, auch solche, die der nationalen Sicherheit nicht schaden.»

Das Zmina-Zentrum habe fast alle der 9000 Kollaborationsfälle analysiert – auch den Fall von Tetjana Potapenko. Sinjuk und ihr Team seien besorgt, dass das Gesetz «zu breit gefasst» sei. Die Gesetzgeber müssten die Realität des Lebens und Arbeitens unter russischer Besetzung berücksichtigen, so Sinjuk.

Kollaborateure mitverantwortlich für 59 Tote

Unter den 9000 Fällen von angeklagten Kollaborateuren gibt es auch zahlreiche Beispiele, in denen Kollaborateure grossen Schaden anrichteten. Etwa vergangenen Oktober: Eine Rakete tötete damals in dem Dorf Hrosa bei einer Beerdigung eines Soldaten 59 Menschen – und damit fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung.

Die ukrainischen Behörden beschuldigen die Brüder Wolodimir und Dmitro Mamon, Moskau Informationen über das Anschlagsziel gegeben zu haben. Die beiden lebten in Hrosa. Verurteilt werden sie wohl nie – sie sind nach dem Anschlag nach Russland geflohen.

Motive müssten berücksichtigt werden

Auch die UNO teilt die Ansicht, dass einige Verurteilungen in der Ukraine unrechtmässig ausgesprochen wurden. Man habe erlebt, dass das Gesetz manchmal «ungerecht» angewendet worden sei, sagte Danielle Bell, Leiterin der UNO-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der Ukraine, gegenüber der BBC.

Die Gesetzgeber müssten laut Bell auch die Motive der angeklagten Personen berücksichtigen. «Es gibt zahllose Beispiele dafür, dass Menschen unter Zwang gehandelt und Aufgaben übernommen haben, nur um zu überleben.»