Ukraine-Blog: Fotos, Fakes und FragenBehandlung im Spital? Nur mit russischem Pass
Keine Medikamente, keine Rente: In den besetzten Gebieten geraten ukrainische Einwohner ins Visier der Besatzungsbehörden. Diese arbeiten mit brutalen Druckmitteln.
Der Kreml treibt die Russifizierung in den von Russland besetzten Gebieten voran. Und um dort lebenden Ukrainern und Ukrainerinnen den russischen Pass aufzudrücken, sind den russischen Besatzungsbehörden alle Mittel recht. Zu diesem Schluss kommt ein neuer Bericht der Europäischen Rundfunkunion (EBU), ein Zusammenschluss öffentlich-rechtlicher Medien. Der Bericht spricht von einer «brutalen Russifizierung in der besetzten Ukraine».
Die Medien befragten geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer und werteten während Monaten öffentlich zugängliches Material aus. Dabei enthüllten sie gravierende Missstände bei den Menschenrechten: Ohne russischen Pass gibt es in zahlreichen besetzten Gebieten keinen Zugang zu Lebensmitteln, Bildung oder Medizin. Wer nur den ukrainischen Pass besitzt, kann an vielen Orten kaum mehr dem Alltag nachgehen.
Keine Behandlung im Spital
So erzählt es etwa die Ukrainerin Larysa Borova gegenüber den Journalisten von EBU. Sie floh aus dem besetzten Cherson und lebt nun in Odessa. Einer Freundin mit Diabetes habe die Besatzungsbehörde angedroht, die Abgabe von Insulin zu verweigern, erzählte Borova. «Sie sagten ihr: ‹Wenn du das nächste Mal Insulin holen kommst, bekommst du es nicht ohne dieses Dokument›.» Man habe sie stark unter Druck gesetzt, so die Ukrainerin. Das überlebenswichtige Medikament erhielt sie erst, als sie schliesslich den Pass beantragte.
Eine weitere Befragte namens Ludmila (der Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert) bestätigte, dass auch in Saporischschja die Abgabe von Medikamenten für Ukrainer und Ukrainerinnen nicht möglich ist. Das berichtet der TV-Sender BBC, der am Recherchenetzwerk der EBU beteiligt war. Laut Ludmila muss man den russischen Pass besitzen, um in ein Spital zu gehen: «Wenn du ihn nicht hast, wird man dich nicht behandeln.»
Auch das Rentensystem ist offenbar von den Repressionen betroffen. Wer nicht im Besitz des russischen Passes ist, erhält keine Rente ausgezahlt. «Pensionierte Personen sind gezwungen, sich russische Pässe zu besorgen, um ihre Rente zu erhalten», berichtet Ludmila. Es sei «eine Frage des Überlebens».
Ukrainische Kinder werden gezwungen, die Inhalte des russischen Lehrplans zu lernen.
Die russischen Behörden bauen auch in anderen Teilen des alltäglichen Lebens Druck auf die Bevölkerung auf. So etwa im Bildungssystem: Ukrainische Kinder werden gezwungen, die Inhalte des russischen Lehrplans zu lernen. Dieser wurde zum Start dieses Schuljahres umfassend geändert: Auf dem Programm stehen nun die «militärische Grundausbildung» und Propaganda, in der unter anderem die Invasion in die Ukraine gerechtfertigt wird.
Wer seine Kinder nicht an die Schule schicken möchte, wird laut den Befragten massiven Drohungen ausgesetzt. Erst recht, wenn man auf dem Papier Ukrainer und nicht Russe sei, wie Ludmila berichtete. «Sie sagten uns, dass sie uns unsere Kinder wegnehmen und unsere elterlichen Rechte entziehen würden, wenn wir sie nicht in die Schule gehen lassen würden», erzählte Ludmila.
Das sei der Grund gewesen, wieso sie aus der Ukraine geflohen seien. Doch die besetzten Gebiete zu verlassen, ist mit Kosten und Gefahren verbunden. In Ludmilas Fall mussten sie Schmugglern knapp 3000 Dollar bezahlen. Danach begaben sie sich auf eine viertägige Reise, bei der sie Kontrollpunkte in Russland und Weissrussland passieren mussten, um in die Ukraine zu gelangen.
Risiko von Gefängnisstrafen
Doch wer sich auf von Kiew kontrolliertes Gebiet begibt, dem droht das Risiko, der Kollaboration mit den Besatzern beschuldigt zu werden. Schon früh im Krieg verschärfte Kiew die Gesetze zur Bestrafung von Aktivitäten, die als Hochverrat gelten. Nach Angaben der ukrainischen Nichtregierungsorganisation Chesno hat die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft zwischen Januar 2022 und September 2023 fast 10’000 Fälle von Hochverrat und Kollaboration untersucht.
Zahlreiche Personen werden von der Besatzungsmacht jedoch oft mit Androhung oder Ausübung von Folter unter Druck gesetzt, Aussagen zu machen oder zu kollaborieren, wie unter anderem ein Bericht des Europarats vom August festhält. Das Büro des UNO-Hochkommissars für Menschenrechte berichtete bereits im vergangenen Juni, dass die fehlende Definition des Gesetzes Bedenken hinsichtlich der Einhaltung der Rechtsvorschriften aufwerfe und «die Gefahr willkürlicher Inhaftierungen» berge.
«Das Gesetz ist nicht klar genug», sagt im Bericht der EBU Kateryna Rashevska, Rechtsberaterin am Regionalen Zentrum für Menschenrechte in Kiew. Sie erwartet, dass es in Zukunft Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geben könnte. In denen könnte die Ukraine «der Menschenrechtsverletzungen von Menschen schuldig gesprochen» werden, die vor den ukrainischen Gerichten «als Kollaborateure» anerkannt wurden.
Situation ähnle der auf der Krim vor zehn Jahren
Die UNO kam in einem Bericht zum Schluss, dass das vom Besatzungsregime geschaffene System stark an das erinnert, das vor bald einem Jahrzehnt auf der Krim etabliert wurde: «Die Behörden schufen ein Zwangsumfeld, sodass den Bewohnern keine andere Wahl blieb, als russische Pässe zu erwerben.» Denjenigen, die keinen russischen Pass hatten, drohte laut dem Bericht «der Verlust ihres Arbeitsplatzes und der eingeschränkte Zugang zu lebenswichtigen Dienstleistungen wie medizinischer Versorgung, Bildung und Sozialleistungen».
Es fehlen genaue Zahlen darüber, wie viele Personen aktuell in den besetzten Gebieten leben. Schätzungen reichen von sechs bis zu elf Millionen Menschen. Ein Teil dieser Personen hat Berichten zufolge die russische Herrschaft begrüsst, aber es ist nicht klar, wie weit die Unterstützung für Moskau reicht.
Die Menschen, die geflüchtet sind, verfolgt die Zeit unter der Besatzungsmacht bis heute. «Man lebt in ständiger Angst», sagte Ludmila gemäss dem EBU-Bericht. Die Ukrainerin befindet sich nun in einem Zentrum für Binnenflüchtlinge in Saporischschja in Sicherheit. «Wenn man nicht mit ihnen sein will, bedeutet das, dass man gegen sie ist. Und wenn du gegen sie bist, dann …» Ihre Schwägerin Oksana beendete den Satz für sie: «Du tauchst unter, oder du schaust zu und wartest, bis sie dich holen kommen.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.