Ukraine-Blog: Fotos, Fakes und FragenRussland zwingt Migranten zum Militärdienst
Die russische Armee braucht dringend neue Soldaten. Die Behörden haben es nun auf frisch eingebürgerte Arbeiter aus Zentralasien abgesehen.
Die Gegenoffensive der Ukraine ist in vollem Gange. Bei der Verteidigung der Gebiete an der Front erleidet die russische Armee hohe Verluste – und benötigt deswegen dringend neue Streitkräfte. Verschiedenen russischen und westlichen Berichten zufolge plant der Kreml, bis Ende Jahr 420’000 zusätzliche Armeeangehörige einzuziehen. Doch die Rekrutierung von Vertragssoldaten geht nur schleppend voran, wie BBC Russia berichtet.
Die Schwierigkeiten bei der Anwerbung und der Einstellung von Vertragssoldaten lassen sich laut BBC anhand von zwei Faktoren erkennen. Zum einen sind «aggressive Rekrutierungskampagnen für den Vertragsdienst» seit mehreren Wochen im Gang. Zum anderen gibt es jüngst eine Häufung von «verschiedenen Gesetzesinitiativen zur Zwangsrekrutierung».
Viele Beobachter halten es daher für wahrscheinlich, dass der Kreml bald eine erneute Mobilisierung verkünden wird. Für viele Russen weckt das alte Ängste: Bereits im September 2022 ordnete Putin eine Teilmobilmachung an: 300’000 Reservisten wurden damals eingezogen. Es kam zu Protesten im ganzen Land, Hunderttausende Männer flüchteten ins Ausland.
Erst am Freitag verkündete der Kreml, dass mindestens 100’000 Wehrdienstpflichtige im Rahmen der üblichen Herbsteinberufung eingezogen werden. Die Soldaten würden regulär zum zwölfmonatigen Grundwehrdienst einberufen, aber nicht im Kriegsgebiet in der Ukraine eingesetzt, teilte der Generalstab mit.
Migranten im Visier der Behörden
Im Streben, mehr Soldaten für den Krieg in der Ukraine zu rekrutieren, geraten nun zunehmend zentralasiatische Migranten in den Fokus der Behörden. Jährlich kommen Tausende Wanderarbeitende, etwa aus Kirgistan oder Usbekistan, in der Hoffnung auf bessere Arbeitsmöglichkeiten nach Russland. Viele bleiben – und bewerben sich für die russische Staatsbürgerschaft.
Ein neuer Gesetzesentwurf vom 28. August möchte nun eingebürgerten Migranten die russische Staatsbürgerschaft entziehen, wenn sie sich «der militärischen Mobilmachung entziehen» oder «die Frist für die obligatorische Militärregistrierung versäumen».
«Ausländer, die die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation erhalten haben, vermeiden oft die Registrierung für den Militärdienst und ignorieren die Tatsache, dass diese Staatsbürgerschaft nicht nur Rechte, sondern auch entsprechende Pflichten mit sich bringt», begründete der Duma-Abgeordnete und Initiator Michail Matwejew seinen Gesetzesentwurf.
Razzien in ganz Russland
Zuvor hatte Waleri Fadejew, der Vorsitzende des russischen Menschenrechtsrats, vorgeschlagen, «die Ausstellung von Pässen für neue Bürger mit der militärischen Registrierung zu verbinden». Und der Politiker Alexei Schurawlow ging sogar noch weiter und sagte, dass die Armee neue russische Staatsbürger nicht zum Eintritt in den Militärdienst überreden, sondern sie «mit Gewalt ergreifen» sollte.
«Russlands Migrantengemeinschaften spüren bereits die Auswirkungen dieses Wandels in der offiziellen Rhetorik», schreibt das russische unabhängige Portal «Meduza». In den vergangenen Wochen kam es zu mehreren Razzien in ganz Russland, die auf Migranten abzielten. Mehrere Hundert Wanderarbeiter aus Zentralasien seien dabei festgenommen worden, berichtet das Portal.
«Die Behörden rechtfertigen diese Razzien damit, dass Migranten vergessen, sich beim Militär zu registrieren.»
So etwa bei einer zweitägigen Razzia Mitte August in einem grossen Lebensmittellager im Süden von St. Petersburg: Laut «Meduza» wurden über hundert Arbeitsmigranten mit kürzlich erworbenen russischen Pässen aufgegriffen und sofort zur militärischen Registrierung gebracht. Ähnliche Razzien fanden laut dem Portal in mindestens fünf anderen Regionen Russlands statt. In zahlreichen Städten seien Dutzende Migranten gezwungen worden, sich zum Militärdienst zu registrieren.
«Eine weitere Repressionswelle»
Laut «Meduza» zielten die Durchsuchungen hauptsächlich auf Männer ab, die kürzlich die russische Staatsbürgerschaft erhalten haben, aber die obligatorische militärische Registrierung nicht abgeschlossen haben. «Die Behörden rechtfertigen diese Razzien damit, dass Migranten vergessen, sich beim Militär zu registrieren, wenn sie Staatsbürger der Russischen Föderation werden. Offenbar helfen die Sicherheitskräfte auf diese Weise neuen Bürgern, ‹ihre Pflichten zu erfüllen›», sagte Waleria Wetoschkina, Anwältin bei der russischen Menschenrechtsorganisation Department One, gegenüber «Meduza».
«Dies ist eine weitere Repressionswelle, die darauf abzielt, die Reserven (des Militärs) aufzufüllen und die Zahl derjenigen zu erhöhen, die für die Wehrpflicht im nächsten Herbst einberufen werden können», so Wetoschkina.
Arbeitsmigranten in Russland seien «eine grosse und gefährdete Bevölkerungsgruppe», die «immer für die Ziele des Landes» eingesetzt werde, sagt Temur Umarow, Analyst bei der US-Denkfabrik Carnegie Endowment for International Peace, gegenüber «Meduza». «Und die russische Regierung hat mehrere Möglichkeiten, sie als Futter für ihr Militär auszunutzen.»
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