TV-Kritik «Tatort»Wenn der Mond aufgeht und es in Wacken wummert
20 Jahre Borowski: Der Jubiläums-«Tatort» kommt trotz Heavy-Metal-Soundtrack leise daher, verdient freilich ein lautes Lob.
Beim Dreh am Wacken Open Air haben sie ihm zugerufen «Borowski, ich will ein Kind von dir!». Das berichtete der 67-jährige Kommissardarsteller Axel Milberg im NDR-Interview kurz vor der Ausstrahlung der Jubiläumsausgabe «Borowski und das unschuldige Kind von Wacken». Vor zwanzig Jahren hat Milberg die «Tatort»-Rolle übernommen, in der er 2025 zum letzten Mal zu sehen sein wird. Anfangs gab er Borowski als rauen Choleriker, wandelte sich jedoch zum altersmilden, wortkargen Zuhörer, der den Verbrechen mit seiner verständnisvollen Art auf den Grund kommt.
So geht er auch diesmal vor, als man ihn aus dem Urlaub zurückbeordert; ihm beim Kampf mit den Stubenfliegen im Camper zuzugucken, während Paolo Contes «It’s Wonderful» im Radio läuft, ist übrigens einer jener grossartigen Momente, die Regisseurin Ayşe Polat («En Garde») gestaltet, als hätte sie alle Zeit der Welt und nicht einen Krimi zu erzählen.
Selbiger dreht sich darum, dass bei einem Parkplatz in der Nähe Kiels ein totes Neugeborenes gefunden wurde. In den ersten beiden Filmminuten hatten wir das Baby noch quietsch-, nein, schreilebendig gesehen, liebevoll umsorgt von einer jungen Frau (beachtlich: die deutsch-ukrainische Schauspielerin Irina Potapenko): Emotionalisierung ohne grosse Worte ist eine Strategie, die in «Borowski und das unschuldige Kind …» immer wieder wirkungsvoll eingesetzt wird.
Ein Eintrittsbändchen und eine Zeugenaussage führen Borowski und seine Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik, seit Sommer selbst Mutter) ins 2000-Seelen-Dorf Wacken, das jeden August eines der grössten Heavy-Metal-Musikfestivals der Welt mit rund 80’000 Besuchenden beherbergt. Es ist kurz vor Festivalbeginn, und stiltreu brüllt die Musik durch den ganzen Film, erhält eine fette Hommage; im Finale steht gar die Göteborger Melodic-Death-Metal-Band The Halo Effect auf der Wacken-Bühne. Dass der echte Festivalchef Thomas Jensen ebenfalls seinen Auftritt hat, ist das Sahnehäubchen obendrauf.
Psychologie und Backstorys sind stimmig
Trotzdem: Die Wacken-Szenerie vom flippigen Festivalvolk bis zu Atmosphäre-trunkenen Takes vom platten Land mit und ohne Mond (und ohne Schlammchaos) ist ein – durchaus cooles! – Extra, das mit der Handlung nur peripher zu tun hat. Die zeichnet sich dafür dadurch aus, dass sie, neben Spannung, eine sehr aktuelle Überraschung bietet und dass die Figuren glaubwürdig geraten sind (Drehbuch: Agnes Pluch).
Psychologie und Backstorys sind stimmig, ob Dorfpolizistin samt erwachsenem, sozial inkompetentem Sohn, ob empfindsamer Heavy-Metal-Teen samt überforderter Single Mom, ob ukrainische junge Mutter oder biederes Wirtsehepaar mit Geheimnis. Zwischenrein schlüpft Borowski mit seinen taktvollen Nachforschungen zu den lokalen Lieben und Lebenslügen. Und singt passend zur Bildsprache, aber ganz Gegenprogramm zu den harten Sounds: «Der Mond ist aufgegangen».
Der Sonntagskrimi flicht das Thema Kind und Mutterschaft sogar in dahingeworfene Nebensätze; ist quasi eine 90-minütige Variation über Kinderwunsch und Regretting Motherhood. Er verfährt da schon ab und an arg unsubtil und «on the nose» – trifft aber stets in die Brust.
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