TV-Kritik «Tatort»Zwei Tote – und keine Vergebung
Der neue «Tatort» aus Stuttgart ist ein grossartig gewirktes Netz aus Vergangenheit und Gegenwart.
Leise zitiert eine Männerstimme Conrad Ferdinand Meyers Gedicht «Lethe» (bekanntlich der antike Fluss des Vergessens in der Unterwelt), während lautlos ein Männerkörper in den nächtlichen Wellen versinkt. Zuvor hatten die weit aufgerissenen Augen des Mannes noch in die ungerührten Glupschaugen eines Froschs gestarrt; der Typ mittleren Alters lag gefesselt auf der Erde, buchstäblich in Froschperspektive. «In die Welle taucht’ ich. / Bis zum Marke schaudert’ ich, wie seltsam kühl sie war.»
Doch schon erstrahlt die Sonne über dem Neckar, und die Rechenreinigungsmaschine zieht eine Leiche aus dem Schlamm. Die Stuttgarter Kommissare Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) sind hochmotiviert, nur Rechtsmediziner Vogt (Jürgen Hartmann) verhält sich merkwürdig, so als hätte er einen Geist gesehen. Das hat er auch, wie die TV-Zuschauenden bald verstehen, derweil die Ermittler noch eine Weile im Dunkeln tappen.
Grossartig, wie das Drehbuch von Katharina Adler und Rudi Gaul uns immer wieder zurückkatapultiert in Vogts Jugend, Mitte der Achtziger, als er mit seinem Freund Mathias ständig Bonnie Tylers «Total Eclipse of the Heart» hörte, auf dem Walkman. Gemeinsam war man auf der Demo gegen den Nato-Doppelbeschluss gewesen, hatte sich in der Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm an den Händen gehalten. Auch die künftige Ehefrau von Mathias war mit dabei, angeschwärmt vom jungen Vogt.
Es ist ebendieser Mathias, der nun vor Vogt auf dem Obduktionstisch liegt, ertrunken, voller Metastasen und Fentanyl, mit zerschrundenem Körper. Mord? Selbstmord? Unfall?
Grossartig auch, wie die Regie (gleichfalls Rudi Gaul) die Handlung rund um Vogt und die Ermittlungen der Kommissare durch geschmeidige Schnitte in ineinanderblendet, obwohl diese Erzählstränge anfangs ohne Berührungspunkte verlaufen. Aus dem Aneinandervorbeischlingern der Protagonisten gewinnt der sonst meist melancholische Film sogar komödiantische «à parts».
Clever wird zudem das Motiv der Flüssigkeit eingesetzt: Von den gefährlichen Wogen zu Beginn über eine saftige Grapefruit, blubbernden Kaffee, sprudelndes Mineralwasser und trommelnden Regenschauer bis hin zum glitzernden Wassertropfen auf einem Grashalm darf die Kamera kleine Studien des Liquiden gestalten. Alles fliesst, die Zeit verrinnt – nur die Schuld bleibt. Auch wenn die Erinnerung daran weggeschwemmt scheint.
Dazu wirft der Soundtrack das ältere TV-Publikum in die persönliche «temps perdu». Der Film «Vergebung» erzählt prioritär eines: Der süsse Vogel Jugend ist sterblich. Wir werden alle nicht jünger – umso wichtiger, dass wir mit uns selbst und unseren Mitmenschen im Reinen sind.
Das ist eine bloss scheinbare Banalität, hineingewirkt ins Panorama einer Epoche, in der Schwulsein schambesetzt war – und in eine tragische Einzelgeschichte rund um einen toten Teen und seine überlebenden Kollegen. Zwischendurch tupft das Drehbuch galgenhumoreske Pointen, etwa darüber, dass für die Kommissare «eine Alters-WG ’ne Option wäre, wir hängen eh den ganzen Tag zusammen».
Die Idee zur Story stammt von Hartmann, der seine Rechtsmediziner-Rolle für einmal ausweiten wollte: geglückt. Als am Ende dann das tropfnasse Trio aus der Neckarstadt bedröppelt beieinanderhockt, während die Frösche quaken, ist nur ein Urteil möglich: ganz grosses Kino!
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