Opposition in der TürkeiErdogan lässt den Mann festnehmen, der ihn besiegen könnte
Ein 54-sekündiges Video, dann wird Istanbuls Oberbürgermeister und Erdogan-Herausforderer Ekrem Imamoglu abgeführt. So etwas hat das Land noch nicht gesehen.

- Ekrem Imamoglu, Oberbürgermeister und Hoffnungskandidat der Opposition, wurde in Istanbul festgenommen.
- Die Justiz wirft Imamoglu Korruption und verbotene Kontakte zur PKK-Miliz vor.
- Er sollte am Sonntag von seiner Partei CHP zum Präsidentschaftskandidaten gekürt werden, also zum Herausforderer von Recep Tayyip Erdogan.
- Imamoglus Kandidatur wird von der CHP trotz Inhaftierung unterstützt.
Vielleicht ist es der Moment, in dem Ekrem Imamoglus Karriere zu Ende geht. Oder es ist der Moment, in dem sie erst anfängt. Die Uhr zeigt 7.12 Uhr in Istanbul, als das kurze Video auf dem X-Account des Oberbürgermeisters erscheint, des Mannes, der am Sonntag von seiner Partei, der säkularen CHP, zum Präsidentschaftskandidaten gekürt werden sollte, also zum Herausforderer von Recep Tayyip Erdogan.
Imamoglu steht in seiner Garderobe, er ist gerade dabei, sich eine Krawatte umzubinden. Draussen wartet schon die Polizei, es liegt ein Haftbefehl gegen ihn vor. «Ich bin traurig, Ihnen das sagen zu müssen», spricht Imamoglu in die Handykamera. Er sehe sich «einer grossen Schikane» gegenüber. «Ich möchte», sagt er, «dass Sie wissen, dass ich nicht aufgeben werde.»
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Mehr als 100 Menschen lässt die Regierung festnehmen
Dann verstummt er. Die Beamten fahren ihn in die Zentrale der Istanbuler Polizei in der Vatan Caddesi, der Strasse des Vaterlands. Sie nehmen ihn aufgrund von Vorwürfen fest, wie sie die türkische Justiz zufällig in den vergangenen Monaten gegen ihn gesammelt hat. Gerade in der Zeit, als sich Imamoglu auf die Präsidentschaftskandidatur vorbereitete.
Von Korruption ist die Rede, dazu von Kontakten zur verbotenen kurdischen PKK-Miliz, mit der Türkei derzeit eigentlich den Frieden sucht. Wer zuletzt in der Tat mit der PKK zu tun hatte, war die türkische Regierung selbst. Jetzt lässt sie neben Imamoglu mehr als 100 Menschen festnehmen, darunter dessen wichtigste Mitarbeiter. Bis zur geplanten Nominierung Imamoglu am Sonntag sind nicht nur Demonstrationen verboten, selbst Presseerklärungen sind nicht erlaubt. In Istanbul wacht darüber ein Grossaufgebot der Polizei.

Auch in einem Land, das nie eine vollendete Demokratie war, ist dieser Tag ein Einschnitt. Präsident Erdogan hat über Jahre immer wieder politische Gegner festnehmen, verhaften und verurteilen lassen, besonders oft kurdische Politiker wie den beliebten Selahattin Demirtas. In Imamoglu allerdings sah der Präsident wohl von Anfang an jemanden, der eine breite Mehrheit im Land finden und ihm gefährlich werden könnte.
Imamoglus rhetorisches Talent erinnert an Erdogan
Als Imamoglu in Istanbul das erste Mal die Bürgermeisterwahl gewann, im Frühling 2019, liess die Wahlbehörde den Sieg des Oppositionellen annullieren, mutmasslich auf Erdogans Weisung hin. Imamoglu gewann die zweite Wahl dann mit weit grösserem Abstand, der Präsident musste es hinnehmen. In dessen Heimatstadt, der türkischen Wirtschaftsmetropole, regierte erstmals während Erdogans Herrschaft ein Oppositioneller.
Nur Monate später begann bereits das erste Gerichtsverfahren gegen den neuen Bürgermeister. Die Justiz verurteilte ihn zu einer Haftstrafe und Politikverbot, eine Strafe, die bisher nicht rechtskräftig wurde, sie schwebte nur wie eine dauernde Drohung über Imamoglu. Der schaffte es mit seinem rhetorischen Talent, das stark an Erdogan erinnert, zum eigentlichen Oppositionsführer aufzusteigen. Im März vor einem Jahr gelang ihm die Wiederwahl so klar, dass ihm die Nominierung als kommender Präsidentschaftskandidat der CHP kaum noch zu nehmen war.
Imamoglu war nun derjenige, der eine, der Erdogan schlagen könnte. Würde der Präsident ihn festnehmen lassen, würde er so weit gehen? Bis zum Mittwochmorgen war das die Frage. Mit gleich mehreren Gerichtsverfahren hatte es Imamoglu inzwischen zu tun, dazu kam neuerdings der Vorwurf, sein Uniabschluss sei ungültig. Ohne einen solchen darf in der Türkei niemand als Präsident kandidieren.
Am Dienstagabend, wenige Stunden vor der Festnahme, entsprach die Istanbuler Universität dem impliziten Wunsch der Regierung und entzog Imamoglu den Abschluss. Vorher war der zuständige Dekan der Fakultät zurückgetreten. Die Zweifel dagegen, die es am Diplom des amtierenden Präsidenten gibt, sie spielen keine Rolle.
Erdogan glaubt, dass er sich den Schritt gerade erlauben kann
Der hatte sein Land bisher, also seit mehr als zwei Jahrzehnten, zwar mit autokratischen Tendenzen regiert. Die Wahlen, die er gewann, hatten mit fairem Wettstreit wenig zu tun. Nahezu die gesamte Medienlandschaft steht unter seiner Kontrolle, der Staatsapparat sowieso. Am Ende aber gewann Erdogan die Wahlen, denen er sich stellte. Nun lässt er den Mann von der Polizei abholen, der gegen ihn antreten will. So etwas hat die türkische Republik, von Militärputschen abgesehen, noch nicht gesehen.
Offenbar glaubt der Präsident, dass er sich diesen Schritt gegen seinen Herausforderer gerade erlauben kann. Angesichts der Trump-Präsidentschaft und des Krieges in der Ukraine sowie der Lage in Syrien gilt er in Europa als wichtiger Partner. Dazu sind die nächsten Wahlen erst für 2028 vorgesehen. Zwar glauben viele, dass der Termin vorgelegt wird. Doch bis dahin, dürfte Erdogan kalkulieren, wird sich die türkische Gesellschaft an einen inhaftierten Imamoglu gewöhnt haben. Eben so, wie sie sich damit abfand, dass andere Gegner Erdogans verhaftet wurden.
Die Opposition verspricht nun, sie werde sich wehren. Was die Türkei erlebe, sagte der Vorsitzende der CHP, Özgür Özel, sei ein «Putsch gegen unseren nächsten Präsidenten». Am Sonntag will die Partei wie geplant die Vorwahl abhalten – und Imamoglu auch dann nominieren, wenn er in einer Zelle sitzt. Am Ende werde «das Volk siegen», sagt Özel.
Ältere Türkinnen und Türken dürften am Mittwoch an einen Märztag vor 26 Jahren gedacht haben, als ein Hoffnungsträger der damaligen Opposition ins Gefängnis musste. Vorher sagte er in einem «Spiegel»-Interview, die Türkei erniedrige sich damit «vor der ganzen Welt». Angesichts der «Antidemokraten» in der Regierung sehe es für seine politische Zukunft «düster» aus. Sein Name war Recep Tayyip Erdogan, vier Jahre später war er Premierminister.
Fehler gefunden?Jetzt melden.