Krieg in der UkrainePlötzlich wollen 86 Prozent der Franzosen eine Rückkehr zum obligatorischen Militärdienst
Emmanuel Macron hat Frankreich eingeschworen auf eine militärische Bedrohung aus Russland – und damit mehr bewirkt im Volk, als ihm lieb sein kann.

Selten hat eine Rede von Emmanuel Macron unmittelbar so viel ausgelöst wie die jüngste, vorgetragen mit viel Gravitas vor zwei Wochen zur Primetime: 20 Uhr, auf France 2, dem staatlichen Fernsehsender, schwarzer Anzug, schwarze Krawatte. Das lässt sich bereits sagen.
Vielleicht löste der französische Präsident mit seiner Beschwörung der Franzosen, sie möchten die Gefahr nicht unterschätzen, die Europa und Frankreich gerade aus Russland erwachse, sogar mehr aus, als ihm lieb ist. Ans Volk gewandt sagte er: «Das Vaterland braucht euch und euer Engagement.»
Eine realistische Option?
Und das Volk scheint den Appell wörtlich zu verstehen: 86 Prozent der Franzosen, so hat eine Umfrage von Ipsos ergeben, wünschen sich nämlich jetzt, dass Frankreich die allgemeine Wehrpflicht wieder einführt. Fast dreissig Jahre nach deren Abschaffung. Kaum war die Umfrage erschienen, versuchte Macron, die Dynamik, die er da entfesselt hatte, wieder etwas zu bremsen. Die Wehrpflicht, sagte er nun, sei keine «realistische Option».
Es fehle dafür die Basis, die Logistik. Man sei schon so weit fortgeschritten bei der Professionalisierung der Armee, man drehe das nicht wieder zurück. Er werde aber, sagte der Präsident, in den kommenden Wochen einen «grossen Neuentwurf» des Service national universel vorstellen, auf Deutsch etwa: Allgemeiner Nationaldienst, bekannt unter seinem Akronym SNU. Es ist eines von Macrons Lieblingsthemen, seit er an der Macht ist.
Selber hat Macron nicht gedient
Aber zunächst zur «unrealistischen Option». Jacques Chirac hatte die Wehrpflicht in den Neunzigerjahren ausrangiert: 1996. In Kraft trat das Gesetz im Jahr darauf. Macron, heute 47 Jahre alt, ist der erste französische Staatspräsident, der nicht gedient hat.
Die Abschaffung der Wehrpflicht war eigentlich schon unter Charles de Gaulle angedacht worden: Die Macht der nuklearen Abschreckung, die sich Frankreich unter dem General verschafft hatte, schmälerte die Bedeutung der konventionellen Wehrhaftigkeit. Chirac setzte um – und zwar mit einem definitiven Gestus: Stützpunkte wurden geschlossen, viele Kasernen verkauft.

Wenn Macron jetzt sagt, Frankreich habe «keine Basis und keine Logistik» für eine Rückkehr zur Wehrpflicht, meint er genau das: Es fehlt an allem, an Infrastrukturen, Instruktoren, Material. Und am Geld, um eine Armee mit ungefähr einer Million ständiger Mitglieder neu aufzubauen. Aktuell zählt Frankreichs Berufsarmee ungefähr 200’000 Soldaten. Geplant ist, dass das Heer der Reservisten etwas hochgefahren wird, bis 2035 soll auf zwei Berufssoldaten ein Reservist kommen. Dann wären es insgesamt etwa 300’000.
In französischen Talkshows wird nun darüber debattiert, ob es nicht doch gescheiter wäre, wenn jeder junge Franzose (und jede junge Französin, die das will) Dienst macht. Die politischen Gräben in dieser Diskussion verschieben sich gerade ein bisschen.
Die ideologischen Gräben sind überholt
Bisher waren es fast ausschliesslich die bürgerliche und die extreme Rechte, die für die Wehrpflicht plädierten. Sie sehen in der Armee eine Schule der Republik und – hoch kontrovers natürlich – den probaten Weg, Menschen aus der Immigration die Werte der Nation beizubringen: in Achtungstellung vor der trikoloren Fahne, die Marseillaise singend. Ganz rechts nennen sie es Assimilierung.
Die Linke wiederum fand immer, dass es allein an der Schule liege, aus jungen Menschen jeder Herkunft mündige Bürger zu formen, solche, die wissen, was ihre Rechte und Pflichten sind. Ganz so scharf sind die ideologischen Grenzen aber nicht mehr, was man auch an den 86 Prozent der Umfrage ablesen kann, und das liegt zweifellos an der geopolitischen Brisanz der Zeit. An der Bedrohung, wie Macron es in der Ansprache nannte, an der «menace».
Ein Monat so tun, als wärs Militär
Nun will er also den SNU neu entwerfen. Im vergangenen Herbst, muss man dazu wissen, war das Projekt beinahe eingemottet worden – aus Spargründen. Der damalige Premier Michel Barnier wollte den SNU opfern, um ein paar Milliarden Euro für sein Sparbudget herauszuholen. Es hiess schon, Barnier demontiere einen Pfeiler des Macronismus. Doch dann stürzte er nach nur drei Monaten im Amt – und der SNU überlebte.
Macron hatte die Idee dafür schon vor seiner ersten Wahl 2017 lanciert, sie war ein Punkt seines Wahlprogramms. Er fand, die Franzosen müssten wieder einen Ort haben, an dem sie einander über die sozialen Klassen hinweg begegneten, eine Art Schmelztiegel der Republik – wenigstens für eine Weile: einen Monat.
Gedacht war der Service national universel, der in militärischen oder zivilen Einrichtungen weit weg vom Heimatort hätte absolviert werden sollen, für 15- bis 17-Jährige. Sie sollten zusammenleben, früh aufstehen am Morgen, Fahnenappell, Nationalhymne, sie sollten Uniformen tragen, Lektionen in Staatskunde erhalten. Und der Dienst sollte obligatorisch sein.
Die Ambition ist geschrumpft – nun soll sie wieder wachsen
Doch bald schon erwies sich die Umsetzung als kompliziert und teuer. So wurde aus dem «obligatorisch» schnell ein «freiwillig». Die Ambitionen waren gestutzt. Die Realisierung wurde dennoch ständig verschoben. Wie so oft hielt eine grosse Ankündigung der Realität nicht stand.
Nun also will Macron diesen Dienst neu definieren, damit er in die Zeit passt. Wie genau, ist noch nicht klar. Vielleicht weitet er die Altersspanne aus. Vielleicht erklärt er den SNU wieder für obligatorisch. Plötzlich scheinen die Franzosen bereit zu sein, Pflichten hinzunehmen, die sie vor kurzem noch abgelehnt hätten.
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