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Grosser Kriminalfall
Der kleine Grégory starb 1984. Frankreich rätselt noch immer

Wer hat den kleinen Grégory getötet? - Produktionsstandbild
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Orte gibt es, die sind für immer dunkel gezeichnet, auch wenn sie nichts dafür können. Als trügen sie ein Etikett, einen Kofferanhänger, den sie auf ihrer Reise durch die Geschichte nicht mehr loswerden. Zum Beispiel Lépanges-sur-Vologne, ein Dorf in den Vogesen im Osten Frankreichs, 850 Einwohner. Fast jeder Franzose kennt den Ort.

Manche fahren hin, als wäre er ein Wallfahrtsort. Sie machen Selfies mit der Ortstafel, suchen Häuser, die Geschichte gemacht haben. Und natürlich schauen sie beim Friedhof vorbei, der hoch über dem Dorf liegt, obschon die Familie das Kind, das da unter hellbraunen Granitplatten in Flügelform bestattet lag, wegen der Schaulust der Leute schon lange eingeäschert und weggebracht haben. Das Grab trägt auch keine Inschrift mehr.

Intrigen, Eifersüchte und ein totes Kind

Lépanges-sur-Vologne ist für immer das Dorf, in dem im Herbst 1984, also vor genau vierzig Jahren, Grégory Villemin umgebracht wurde. «Le petit Grégory», der kleine Grégory. Er war vierjährig, als er starb, ein Kind mit einem lockenumrahmten Engelsgesicht. Und Frankreich fragt sich nach all der Zeit noch immer, was da passiert war, welche Intrigen und Eifersüchte zu diesem Mord geführt haben könnten.

Neulich schrieb jemand ins Gästebuch der Kirche neben dem Friedhof, er «liebe» die «Affäre Gégory». «J’adore», mit Herzchen. Als wäre das ein Spektakel, eine Serie auf Netflix. Und natürlich gibt es auch das: eine Serie auf Netflix. «Grégory» hat fünf Folgen. Düster eingebettet in die Idylle der Vogesen.

A picture taken on October 15, 2024, shows former grave of Gregory Villemin in Lepanges-sur-Vologne. The four-year-old Gregory Villemin was found tied up and drowned in October 16, 1984 in the Vologne river in Docelles.
Forty years later, the boy's disappearance remains unsolved, despite the continuing judicial investigation. (Photo by Jean-Christophe Verhaegen / AFP)

Ein grünes Tal, weiche Hügel und ein Fluss, die Vologne, sie führt gerade viel Wasser. Lépanges ist ein Durchfahrdorf, der einzige Ort im Tal ohne Umfahrungsstrasse. Die D44 zieht durchs Dorf, vorbei an zwei Coiffeursalons, einem Tabakladen. Früher, als es hier grosse Textilfabriken gab, lebten doppelt so viele Menschen in Lépanges. Lange her. Den Bahnhof haben sie mittlerweile stillgelegt. Das Hôtel de l’Est trägt seinen Schriftzug noch, aber Zimmer hat es keine mehr. Zum Glück gibt es im Erdgeschoss ein Bistrot, es heisst «Le Bistrot», es gibt ja auch nur eines.

«Ist es nicht schön hier?», sagt Cédric Prévost, Historiker, Bewohner von Lépanges. Er sitzt in einem kleinen, holzgetäferten Saal des Bistrots, aus der Küche weht schon der Geruch vom Speck herüber. «Und doch werden wir von den Medien reduziert auf diese fürchterliche Geschichte, als gäbe es uns ohne sie gar nicht.»

«Ist es nicht schön hier?»: Cédric Prévost, Historiker und Initiant einer Anti-Bashing-Kampagne, vor der Kirche in Lépanges.

Doch bevor Cédric Prévost gleich erklären wird, wie er auf die Idee kam, ein «Kollektiv gegen das Bashing von Lépanges» zu gründen, muss man zurückdrehen zum 16. Oktober 1984, einem milden Herbsttag, als das Dorf plötzlich und für immer aus der Anonymität trat. Mit einem Foto.

Es zeigt den kleinen Körper von Grégory, dem ersten Kind des jungen Paars Jean-Marie und Christine Villemin, wie er tot im Arm eines Helfers liegt, der ihn an einer seichten Stelle der Vologne bei Docelles, sieben Kilometer von zu Hause entfernt, aus dem Wasser gezogen hatte. Die Kappe über das Gesicht gezogen, die Hände und die Füsse mit einer Kordel gefesselt. 21.15 Uhr. Verschwunden war Grégory vier Stunden davor.

The judge Jean-Michel Lambert (4th D) and the public prosecutor of Epinal Jean-Jacques Lecomte (D) discuss with the gendarmes, on October 18th, 1984, on the places of the discovery of the body of the small Grégory Villemin, which was found drowned at the age of 4, on October 16, 1984, bound in the Vologne near Docelles.AFP PHOTO JEAN-CLAUDE DELMAS (Photo by JEAN-CLAUDE DELMAS / AFP)

Wurde er erdrosselt und dann in den Fluss gelegt? Oder ertrank er? Vor allem aber: Wer hatte das Kind getötet? In Lépanges war eine Tragödie passiert, eingehüllt in ein Mysterium. Der Bruder von Jean-Marie Villemin, dem Vater von Grégory, erhielt an jenem Abend einen Anruf des Mörders, der sagte: «Ich rufe bei dir an, weil nebenan niemand antwortet. Ich habe den Sohn des Chefs genommen, habe ihn getötet und in die Vologne geschmissen – die Rache ist vollbracht.» Rache?

Am nächsten Tag erreichte ein Bekennerschreiben die Familie, es war am Vorabend in der Post von Lépanges aufgegeben worden, darin stand: «Ich hoffe, dass du vor Kummer stirbst, Chef. All dein Geld kann dir dein Kind nicht zurückbringen, das ist meine Rache, du Vollidiot.»

700 anonyme Anrufe

Nun wurde bekannt, dass die junge Familie seit Jahren bedroht worden war. Mehr als 700 anonyme Anrufe hatten die Villemins erhalten, ein Dutzend wurde aufgezeichnet, in schlechter Qualität. Mal war es eine eher weibliche Stimme, mal eine männliche, die da anrief. Sie wussten genau Bescheid über die verzweigte Familie Villemin, auch über die alten Familiengeschichten, über uneheliche Kinder. So gut, dass man denken musste, dass sie selbst zur Familie gehörten.

Die jungen Villemins, Jean-Marie und Christine, respektive 26 und 24 Jahre alt, waren ein glückliches Paar. Er hatte es früh zum Vorarbeiter gebracht, «contremaître» mit 23 schon. Sie konnten sich den Bau eines Hauses leisten, hoch über Lépanges. Und Grégory war ein «Enfant roi», ein Königskind.

Christine (L) and Jean-Marie Villemin, the parents of "little" Gregory, who was found dead on October 16, 1984 with his hands and feet tied in the Vologne River, sit around a table with a picture of Gregory in Epinal on November 23, 1984. (Photo by Eric Feferberg / AFP)

Die nationale Presse fand den traurigen Fall so spannend, dass sie Reporter aus Paris nach Lépanges schickte, die stiegen im Hôtel de l’Est ab. «Dieses Bistrot war das Hauptquartier der Journalisten», sagt der Historiker Prévost. «Sie fielen über uns her», sagt Danielle Didier, 80 Jahre alt, ein Mitglied von Prévosts Kollektiv. «Die Reporter klingelten an den Türen, und kaum war die Tür offen, drangen sie in die Wohnungen ein.»

Für die Menschen im kleinen Ort, die es gewohnt waren, hart zu arbeiten und diskret zu sein, war das eine traumatische Erfahrung. Besonders aggressiv sei das Heft «Paris Match» gewesen, sagt Prévost. Der Mordfall von Lépanges war bald so gross, dass er sogar die Liebesaffären von Stéphanie von Monaco vom Cover von «Paris Match» verdrängte.

Der kleine Richter

Die mediale Welle wiederum setzte die Justiz so sehr unter Druck, wie es das davor in Frankreich vielleicht noch nie gegeben hatte. Alles Licht war jetzt auf Jean-Michel Lambert gerichtet, den jungen Untersuchungsrichter, 32 Jahre alt. Die Medien gaben ihm den Spitznamen «Le petit juge», der kleine Richter. Er musste schnell liefern, das war die Erwartung. Für die Familie, das Dorf, ja für das ganze Land.

Drei Wochen nach der Tat wurde Bernard Laroche verhaftet, ein Cousin von Jean-Marie Villemin, 29, Gewerkschafter. Ein Klassenkampf innerhalb der Familie? Die Schwägerin von Laroche, ein 15-jähriges Mädchen, hatte den Ermittlern bei ihrer Anhörung erzählt, dass sie am Tag der Tat im Wagen mit Laroche gesessen habe, als der den kleinen Grégory beim Spielen vor dem Haus der Villemins geholt habe, nach Docelles gefahren, mit dem Jungen aus dem Wagen gestiegen und dann ohne ihn wieder zurückgekommen sei.

Bernard Laroche, charged with the murder of his nephew Gregory Villemin who was found dead on October 16, 1984 with his hands and feet tied in the Vologne River, arrives escorted by gendarmes at the court in Epinal on November 5, 1984. (Photo by JEAN-CLAUDE DELMAS / AFP)

Aber war das auch wahr? Nur einen Tag später zog die Schwägerin ihr Zeugnis unter Tränen zurück. Die Gendarmen hätten sie zu dieser Version gezwungen, sagte sie, sie habe gar nicht in dem Auto gesessen. War das nun wahr? Laroche hatte ein Alibi, kein sehr solides, aber immerhin. Und die grafologischen Analysen ergaben, dass wohl nicht er der Autor der Drohungen und des Bekennerschreibens war. Er kam frei, entlastet.

Jean-Marie Villemin war inzwischen aber so sehr überzeugt, dass Laroche sein Kind getötet hatte, dass er nicht mehr zur Ruhe kam. Er erzählte herum, dass er ihn umbringen werde. Am 29. März 1985 fuhr er zum Haus des Cousins, Jagdgewehr im Arm, und forderte ihn auf, die Tat zu gestehen. Laroche soll ihm versichert haben, dass er es nicht gewesen sei, offenbar lächelte er dazu. Da erschoss ihn Villemin. Das Gericht verurteilte ihn zu nur fünf Jahren Haft.

Jean-Marie Villemin, the father of "little" Gregory who was found dead on October 16, 1984 with his hands and feet tied in the Vologne River, holds a rifle during the reconstruction of the murder of his cousin Bernard Laroche, whom he suspected of being the murderer of his son Gregory, in Aumontzey on June 20, 1985. (Photo by Marcel MOCHET and Dominique GUTEKUNST / AFP)

Ein paar Monate später dann die vermeintliche Wende im Fall – ein Donnerschlag. Die Polizei nahm Christine Villemin fest, die Mutter von Grégory. Im Keller hatte man dieselbe Marke von Kordeln gefunden, mit denen der Mörder die Hände und die Füsse des Kindes zusammengebunden hatte. Und obschon das ein Schnurzeug war, wie es fast alle in der Region im Haushalt gebrauchten, galt nun ziemlich pauschal: Sie war es, sie hatte alles inszeniert, am Vorabend der Tat war sie ja auch auf der Post gewesen.

Die Medien machten sich jetzt einen Reim darauf, warum ihnen diese Frau immer schon so kühl und abgeklärt erschienen war. Marguerite Duras, die grosse Schriftstellerin, reiste nach Lépanges und schrieb in der Zeitung «Libération» eine viel beachtete, sehr kontroverse Geschichte, die keine Zweifel zuliess. Die Mutter wars! Die Schuld? Geklärt!

LEPANGES SUR VOLOGNE, FRANCE - OCTOBRE: Christine Villemin Going to Confrontation With Members of Villemin Family, October 1985. (Photo by Frederic REGLAIN/Gamma-Rapho via Getty Images)

Christine Villemin war schwanger, als sie ins Gefängnis kam. Sie trat in den Hungerstreik, nach ein paar Wochen kam sie wieder frei. Auch sie wurde entlastet, aber erst 1993. Kein Indiz passte. Aus dem Mediendesaster war auch ein Justizdebakel geworden. Lambert, der «kleine Richter», war völlig überfordert. Viele Jahre später sollte er sich das Leben nehmen.

Die Villemins zogen weg aus Lépanges, in die Nähe von Paris. Sie bekamen drei weitere Kinder, und sie kämpfen bis heute um die Wahrheit. Nun liegt die Akte in Dijon, die Untersuchungen gehen weiter. Die Affäre um Grégory bleibt also ein Mysterium. Und ein Faszinosum. Zum vierzigjährigen Gedenken waren die französischen Medien wieder voll.

Makabrer, morbider Tourismus

Cédric Prévost war noch gar nicht geboren, als Lépanges-sur-Vologne einen Eintrag im kollektiven Gedächtnis der Franzosen erhielt, seinen Kofferanhänger. Er kam erst drei Jahre später auf die Welt. Doch an dieser finsteren Stigmatisierung und am Voyeurismus leidet auch er. «Dark tourism», nennt er es, makabren, morbiden Tourismus. Prévost liebt sein Lépanges, das Bistrot, die Kirche mit ihren Kulturschätzen, die wirtschaftliche Dynamik, die Perlenkultur in der Vologne.

Im vergangenen Sommer, kurz vor dem vierzigsten Gedenktag, brachte die Regionalzeitung «Vosges Matin» eine Sonderbeilage zu den Attraktivitäten der Gegend heraus, den touristischen und gastronomischen, aufgeführt war auch ein «Cocktail Petit Grégory». Das ging ihm zu weit. Er schrieb der Zeitung, dann lancierte er das Kollektiv gegen das Bashing von Lépanges. Seither ist er oft in den nationalen Medien.

General view of a road in Lepanges sur Vologne, eastern France, on April 19, 2000. (Photo by Damien MEYER / AFP)

«Verstehen Sie mich richtig», sagt Prévost immer wieder, «natürlich geht es uns nicht darum, den Mord an diesem Kind auszublenden oder zu vergessen, der war und der ist eine schreckliche Geschichte. Aber Lépanges ist nicht nur diese schreckliche Geschichte.» Hundert Mitglieder zählt das Kollektiv schon. Doch viele andere ärgern sich über die Initiative. Prévost weiss das. Sie sagen, er ehre das Gedenken nicht. Wahrscheinlich habe er politische Absichten. Sein Ziel aber ist es, dass die Klischees verschwinden, dass dieser Voyeurismus aufhört. Die Selfies, die Fototouren durchs Dorf, die Botschaften im linierten Gästebuch der Kirche.

Das Heft liegt auf einem hohen Tisch hinten in der Kirche. Da findet man auch den Eintrag mit dem Herzchen. «Ich bin zwei Stunden Auto gefahren, um dich zu sehen», steht in geschwungener Handschrift, «weil ich diese Affäre liebe. Ruh in Frieden, kleiner Engel.»