Tokio Hotel in der Schweiz«Hey Heidi! Hartes Brot heute in Spiez!»
Vom Netflix-Stargebaren zur harten helvetischen Lokal-Festival-Realität: Die Gruppe Tokio Hotel ist am Seaside in Spiez viel Skepsis begegnet.
Dass dies ein etwas komplizierter Abend werden könnte, wird schon kurz vor Konzertbeginn offenbar. Normalerweise ist beim Erscheinen der Gruppe Tokio Hotel auf einer Grossbühne eine gewisse «Oh mein Gott, sie sind hier»-Aufgekratztheit spürbar.
Nicht so in Spiez. Statt einer fiebrigen Vorfreude ist es eher eine Atmosphäre des misstrauischen Abwartens, die an diesem Abend auf dem Gelände des Seaside-Festivals vorherrscht. Ein Festival, das in den sechs vorangegangenen Ausgaben eher selten Bands im Angebot hatte, die auf einen wie auch immer gearteten Teen-Spirit zielten. In die Festival-Annalen sind hier eher Combos wie Status Quo, Supertramp oder Herbert Grönemeyer eingegangen. Übertrieben glamouröse Inszenierungen sind nichts, womit man hier punkten könnte.
Und so verfliegt die Spiezer Skepsis auch dann nicht, als der Vorhang fällt, sich der Sänger Bill Kaulitz im fulminanten Disco-Kugel-Kleid auf einer hydraulischen Säule sechs Meter in die Höhe hieven lässt, Windmaschinen seine blondierte Haarpracht in Wallung bringen und gigantische Rauchsäulen in den Spiezer Himmel schiessen. Das alles wird von den Einheimischen zur Kenntnis genommen. Unter dem Motto: Wind und Wetter haben wir hier auch so genug.
Und als der Bill das Draufgängertum aufbringt, bereits beim ersten Song das Publikum zum Mitsingen zu animieren, bleibt es gespenstisch stumm in der «schönsten Bucht Europas». Es ist ein ähnliches Vorbehaltskonglomerat auszumachen, wie wenn Bayern München im Cup bei einem Regionalligisten im Ruhrpott antritt. Die feinen Herren sollen zuerst einmal beweisen, dass sie neben aller Show auch malochen können.
Gekünstelte Young-Boy-Group
Dass die Gruppe Tokio Hotel die Geister scheidet, ist freilich kein neues Phänomen. Es ist Sommer 2005, als die 15-jährigen Buben aus Magdeburg mit ihrer ersten Single «Durch den Monsun» den Hitparaden-Thron entern, leidenschaftlich schockvergöttert vom weiblichen Teil der pubertierenden Jugend, noch leidenschaftlicher verachtet von den gleichaltrigen Jungs. Die Vorwürfe sind mannigfaltig: Das von Universal Music bereitgestellte Produzententeam versuche hier, eine gekünstelte Young-Boy-Group heranzuzüchten, und Bills androgyne Style-Fantasien irgendwo zwischen Gothic, Emo, Manga und Glam-Rock-Lady sorgen dafür, dass dieser entweder im Hallenbad zusammengeschlagen oder von Teenie-Girls gestalkt wird.
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Doch der mit allerhand Inbrunst vorgetragene Pop-Rock-Grunge fürs deutsche Kinderzimmer wurde schnell zum weltweiten Massenphänomen. So sehr, dass die internationalen Ableger des Goethe-Instituts bald einen sprunghaften Interessensanstieg an der deutschen Sprache verzeichneten. Jedenfalls so lange, bis sich Tokio Hotel entschied, dann doch lieber auf Englisch weiterzumusizieren, gefolgt von der Flucht der beiden Kaulitz-Frontzwillinge vor ihren übergriffigen Fans nach Los Angeles.
Neuer Popularitätsschub durch Netflix
Von dort hat uns kürzlich eine Netflix-Serie erreicht, die das Leben von Bill und Tom Kaulitz in ihrer bunten Pracht dokumentiert. Dieses dreht sich – so macht es jedenfalls den Eindruck – vor allem um den Besuch irgendwelcher Party- oder Award-Anlässe oder um die Vorbereitung auf den Besuch irgendwelcher Party- oder Award-Anlässe. Man sieht den Bill beim Kauf sensationell glamouröser Show-Kostüme, beim Feiern mit Freunden oder beim Suchen neuer männlicher Bekanntschaften. Und Tom, der seit 2018 mit der Show-Hoheit Heidi Klum verheiratet ist, beim Flicken seines Tonstudios oder beim Fahren von Motorfahrzeugen mit grossem Hubraum. Musik gemacht wird in den acht Folgen nur in einer kurzen Sequenz, in der Toms Studio dummerweise gerade defekt ist.
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Doch das Zauberhafte ist: Die beiden sind einem in ihrem ungenierten Spass am Dasein, in ihrem Reflektieren und Ausleben der eigenen Privilegien, in ihrer Schrulligkeit und in ihrer immer wieder aufblitzenden Tiefe und Selbstironie bald so uneingeschränkt sympathisch, dass es eigentlich kaum vorstellbar scheint, diese verhaltensauffälligen Mittedreissiger nicht ins Herz zu schliessen. Eigentlich.
Biedere Tonkunst
Womit wir wieder zurück am Thunersee wären, wo Bill Kaulitz gerade in einem neuen Kostüm auf die Bühne gehüpft kommt. Es besteht aus nicht viel mehr als einem ledergürtelartigen Beinkleid inklusive eines sehr knappen Nietenslips. Eine Aufmachung, die wohl selbst im Spiezer Domina-Studio für Irritation sorgen würde. Während das etwas ältere männliche Publikum sich mit Grausen abwendet, puffen sich die Damen kichernd in die Seiten: «Dr Anger wieder ..!»
Es ist ja oft zu hören, dass Popstars den Transfer von der hell erleuchteten Showbühne ins weit grauere, richtige Leben nicht so gut prästieren. Dass sie in Stimmungstiefs fallen, wenn der Applaus verstummt. Bei Tokio Hotel scheint gerade das Gegenteil der Fall zu sein. Ihr Netflix-Leben mutet so viel glamouröser und umjubelter an, als ihr heutiges Gastspiel in der Schweiz, wo der Applaus ab der fünften Zuschauerreihe bereits merklich ausgedünnt ist und wo man die Band im Vorfeld wegen des etwas schleppenden Vorverkaufs angehalten hat, eine «Wir freuen uns sehr, kommt vorbei, es gibt noch ein paar Tickets»-Videobotschaft für Social Media aufzunehmen.
Dass die Menge nicht tobt, könnte indes auch mit der dargebotenen Tonkunst zu tun haben, die leider bei weitem nicht mit der wilden Verrücktheit, dem schrillen Glam und dem modischen Zeitgeist von Bills Bühnengewandung mitzuhalten vermag. Was da aus den Boxen kommt, ist ziemlich biederer, etwas unentschlossen mit dem Zeitgeist flirtender Radio-Pop mit temporär aufbrausenden Stadionrockgitarren. Es sind einzig die deutschen Lieder aus der Gründungszeit, die etwas Gravitation entwickeln. Lieder, die irritierend zwischen juveniler Daseinsverzweiflung, Rock-Hymnik und irgendwelchen Tadellos-Beiträgen bei «The Voice Kids» oszillieren.
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Das wird kein Arbeitssieg heute, so viel ist mittlerweile klar. Höchstens ein Arbeits-Unentschieden. Und als Bill Kaulitz in seiner herzerwärmenden Plauderlaune die Schönheit der Spiezer Bucht preist und verrät, mit dem Gedanken zu spielen, sich hier mal nach Immobilien umsehen zu wollen, dürften seine Karriereplanerinnen im Hinterbühnenbereich vehement mit dem Kopf geschüttelt haben. Spiez und Tokio Hotel: Das ist eher keine erfolgsverheissende Konstellation.
Die Band stellt denn auch irgendwann auf Notbetrieb um: Weil keine «Zugabe»-Chöre zu erwarten sind, integriert man diese (den Überhit «Durch den Monsun») kurzerhand ins reguläre Set, ohne zuvor von der Bühne gegangen zu sein.
Seit der Netflix-Serie wissen wir, dass Tom Kaulitz der Heidi Klum üblicherweise jeden Abend eine SMS schickt. Jene von diesem Abend hätte vermutlich etwa so gelautet: «Hey Heidi. Hartes Brot heute in Spiez. Älteres, zähes Publikum. Aber die Gegend ist hübsch. Bill möchte hierhinziehen (genervtes Smiley). Freue mich auf L. A. Drück dich. Tom.»
An diesem Abend ist die SMS indes hinfällig. Frau Klum soll für einmal mit dem Tour-Tross mitgereist sein.
In einer früheren Version des Artikels wurde erwähnt, dass das Publikum in der Anmoderation darum gebeten worden sei, die Band nicht zu verurteilen. Diese Bitte um Toleranz bezog sich jedoch auf die Partnerinnen und Partner von Fans der Band. Wir bitten, diese falsche Interpretation zu entschuldigen.
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