TV-Kritik «Tatort»Ein Cybergroomer krallt sich ein Mädchen und startet eine Gewaltspirale
Aktuell und gleichzeitig nicht ohne konventionelle Spannung. In der neuen Ausgabe folgt die dienstälteste «Tatort»-Kommissarin ihrem Bauchgefühl.
Die Smartwatch am Handgelenk des Toten verrät auf die Sekunde genau, wann das Herz seinen letzten Schlag tat. Warum, zeigt sie aber nicht.
Digitaldaten und Lebenswirklichkeiten, Fake-Identitäten und authentische Gefühlswelten schlingen sich in «Avatar» fatal ineinander. Schon in den ersten zwei Minuten des neuen «Tatorts» aus Ludwigshafen spielen Handys die heimliche Hauptrolle, und auf diese Szenen folgt ein virtuelles Gespräch am Computerbildschirm. Während des Talks schickt Teenager Sina (Ziva Faske) der Stiefmutter einen düsteren elektronischen Poprocksong, der sich immer wieder in den Soundtrack des Krimis hineinpushen wird.
«I hate that this memory fills my head / There is no reset, no rewind / it makes more sense to leave this world behind …», lauten die Lyrics von «Leave This World». Das britische Duo Bright Fuzz schlägt in dem extra für den Film komponierten Lied Ton und Thema von «Avatar» an: Es gibt keinen Trost, nirgends; und keine Wiedergutmachung. Die Editierfunktion ist in «dieser Welt» Fehlanzeige; und selbst künstliche, indirekte Kontakte hinterlassen da reale, hässliche, unauslöschliche Spuren. So entsteht ein Pastiche aus echten Verzweiflungen und flüchtigen Beziehungsversatzstücken.
Auf den Reiz des Whodunnit verzichtet das Drehbuch von Harald Göckeritz dabei weitgehend. Wir wissen bald, wie es dazu kam, dass zwei Männer mittleren Alters kurz nacheinander tot am Rheinufer liegen. Die Ermittlerinnen hingegen, Lena Odenthal (Ulrike Folkerts, die als dienstälteste «Tatort»-Kommissarin ihrem Bauchgefühl folgt) und Johanna Stern (Lisa Bitter), tappen noch eine Weile im Dunkeln. Umso mehr fokussiert der Film auf die Perspektive der Täterin, auf ihr Umfeld, ihre Obsession, ihren Schmerz.
Wie lässt man die Vergangenheit los? Das fragt das Drehbuch wieder und wieder, in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen.
Mal gehts um den Verlust der ersten Liebe sowie einer grossen Freundschaft, mal um das Trauma eines entsetzlichen Cybergroomings, das die junge Sina nicht überwinden kann. Mal kommt Sinas verwaiste, moderne Stiefmutter – phänomenal: Bernadette Heerwagen – nicht mit dem vorderhand unerklärlichen Tod Sinas zurecht. Und schliesslich müssen sich Kriminaltechniker Peter Becker (Peter Espeloer) und Büroperle Edith Keller (Annalena Schmidt) vom Berufsleben und von der langjährigen Sinnstiftung durch die Arbeit verabschieden. Seit 1998 haben sie bei Lena Odenthals Ludwigshafen-«Tatort» mitgetan, jetzt ist Schluss.
Für Sinas Stiefmutter dagegen, eine KI-Expertin, ist «Closure» keine Option. Lieber erweckt sie einen Avatar ihrer toten Tochter zum Leben und recherchiert auf eigene Faust. Regisseur Miguel Alexandre zieht uns da gleichsam eine Point-of-View-Brille über. Aber er treibt diesen sehr weiblichen Krimi über den ubiquitären Fake in unserem digitalisierten Kosmos am Ende doch dem obligat hochtourigen – und sehr bodenständigen – Finale entgegen. Trotz gewisser Haken im Plot hat «Avatar» durchaus Zug; und, vor allem, ein schlagendes Herz.
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