William Lai tritt Amt an Taiwans neuer Präsident lässt sich nicht von China einschüchtern
Der neu gewählte Staatschef ist eine Reizfigur für das Pekinger Regime, das mit Grauzonenaktivitäten gegen die demokratische Inselrepublik vorgeht.
Chinas Militär schickte letzte Woche innerhalb von 24 Stunden 45 Kampfjets in die Nähe von Taiwan – das waren so viele wie noch nie in diesem Jahr. Einerseits handelte es sich um eine der üblichen Einschüchterungsaktionen gegen die demokratische Inselrepublik. Andererseits war es wohl auch eine deutliche Unmutsbekundung gegen den neuen Präsidenten Lai Ching-te, auch bekannt als William Lai, der am Sonntag in Taipeh in sein Amt eingesetzt wurde. Die befürchteten Cyberangriffe der Chinesen gegen Taiwan blieben aus.
In seiner Antrittsrede hat Lai China dazu aufgerufen, «die politische und militärische Einschüchterung gegen Taiwan einzustellen». Seine Regierung werde weder nachgeben noch provozieren, und sie wolle den Status quo beibehalten. Das heisst, dass Taiwan ein unabhängiges Land bleiben soll. Der 64-jährige Lai folgt auf Tsai Ing-wen, die nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten durfte. Beide gehören der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) an.
Lai wird von Chinas Propaganda als «gefährlicher Separatist» verunglimpft, auch als «Zerstörer des Friedens in der Taiwanstrasse». Der Sieg des bisherigen Vizepräsidenten bei der Wahl im Januar hat Peking missfallen, denn Lai gilt als Verfechter eines unabhängigen, demokratischen Taiwan. Peking behauptet, dass Taiwan eine abtrünnige chinesische Provinz sei. Xi Jinping droht, die «historisch unausweichliche Wiedervereinigung» notfalls mit Militärgewalt zu erzwingen. Dabei gehörte Taiwan nie der Volksrepublik China an.
Taiwan verfolgt China-kritischen Kurs
Seit die DPP 2016 die Macht in Taiwan übernommen hat, haben sich die Beziehungen zu China laufend verschlechtert. Die DPP hat ihre Wurzeln in der taiwanischen Demokratie- und Unabhängigkeitsbewegung, die Chinas Einfluss zurückdrängen will. William Lai, ein Mediziner mit Public-Health-Ausbildung an der US-Universität Harvard, stieg Mitte der 1990er-Jahre in die Politik ein. Er gehörte der Nationalversammlung an, war Bürgermeister der Stadt Tainan und von Ende 2017 bis Anfang 2019 Premierminister, ehe er zum Stellvertreter der bisherigen Präsidentin Tsai Ing-wen aufstieg.
Der neue Staatschef Taiwans zeigt sich zwar bereit, den Dialog und Austausch mit Peking wieder aufzunehmen. Gleichzeitig warnt Lai vor zu grosser wirtschaftlicher Verflechtung, und er plädiert für grösstmögliche Distanz zu China. Lai, der sich einst als «politischer Arbeiter für die taiwanische Unabhängigkeit» bezeichnet hatte, setzt auf eine noch stärkere Annäherung an die Schutzmacht USA und andere demokratische Staaten. Zugleich verstärkt Taiwan seine Landesverteidigung.
Nach Lais Wahlsieg im Januar reagierte Peking zwar mit scharfen Verlautbarungen, verzichtete aber auf eine harte Gangart mit bedrohlichen Militärmanövern wie beim Taiwan-Besuch der US-Politikerin Nancy Pelosi im August 2022. China führte aber seine Bemühungen fort, Taiwan politisch zu isolieren, indem es Nauru, einen Inselstaat im Pazifik, auf seine Seite gezogen hat, sodass Taiwan nur noch von zwölf Staaten anerkannt wird.
China versucht schrittweise, den Status quo zu verändern
Vor allem setzt Peking auf sogenannte Grauzonenaktivitäten, wie Simona Grano, Taiwan-Expertin der Universität Zürich, auf Anfrage erklärt. So habe die chinesische Küstenwache in diesem Frühjahr begonnen, regelmässige Patrouillen um Jinmen und Matsu durchzuführen – das sind zwei taiwanische Inseln, die nahe an Festlandchina liegen. Ausserdem habe Peking die Änderung einer Flugroute über der Meerenge von Taiwan veranlasst.
Nach Ansicht von Grano zielen solche Aktivitäten darauf ab, «die Grenzen zwischen den anerkannten Konventionen allmählich zu verwischen». Damit werde der Status quo einseitig und schrittweise in eine neue Normalität übergeführt, «in der die Rechte und Zuständigkeiten, die Taiwan zuvor zugestanden wurden, nicht mehr als selbstverständlich angesehen werden». Diese Grauzonentaktik ermögliche es China, sich weiterhin in Taiwans Angelegenheiten einzumischen, aber auf weniger offensichtliche Weise.
Nach dem Amtsantritt von Präsident Lai erwartet Grano vorerst keine wesentliche Änderung bei Chinas Umgang mit Taiwan – zumindest nicht vor den Präsidentschaftswahlen in den USA im November. Aufgrund interner Probleme und wirtschaftlicher Schwächen habe Chinas Führung derzeit ein grosses Interesse an stabilen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten.
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