Konflikt um TaiwanTaipeh wehrt sich gegen Chinas Aggressionen
Der Inselstaat Taiwan schmiedet weltweit Allianzen, verstärkt seine Armee und bekämpft Desinformationen aus Peking – jetzt steht eine wegweisende Wahl an.
Eine Reise nach Taiwan führt in einen Staat, der aus chinesischer Sicht offiziell gar nicht existiert, in ein Land mit lebendiger Demokratie und leistungsfähiger Wirtschaft, das China sich einverleiben möchte. Dass chinesische Kriegsschiffe und Kampfjets täglich in Taiwans Nähe kommen, gehört längst zum Alltag, ebenso die regelmässigen feindseligen Verlautbarungen aus Peking.
Taipeh geht noch seinen gewohnten Gang als pulsierende Metropole. Menschen drängen sich in die Vergnügungsviertel wie Ximen, Leute stehen Schlange vor Luxusläden und Trendrestaurants. Der 508 Meter hohe Wolkenkratzer Taipei 101, Wahrzeichen der Hauptstadt, strahlt Stolz und Selbstbewusstsein aus.
Doch inmitten der Normalität, so zum Beispiel an Strassenkreuzungen und Häuserwänden, fallen blau-gelbe Flaggen auf: Sie demonstrieren Solidarität mit der Ukraine, und sie dienen als Mahnung. Russlands Krieg zeigt den Taiwanern, dass Frieden – realer als je zuvor – in Gefahr geraten kann. Taiwan könnte, so eine wachsende Befürchtung, zu einem weiteren Kriegsschauplatz werden im globalen Systemwettbewerb zwischen Demokratien und Autokratien – mit verheerenden Folgen für die Weltwirtschaft und die globale Sicherheitsordnung.
«Die militärische Bedrohung durch China hat in den letzten Jahren stark zugenommen», sagt Taiwans Aussenminister Joseph Wu bei einem Treffen mit einer internationalen Journalistengruppe in Taipeh. Die chinesische Armee scheine zwar für einen Angriff auf Taiwan zu üben, dennoch rechne er in absehbarer Zeit nicht mit einem Invasionsversuch Chinas.
Diese Einschätzung stützt Sheu Jyh-shyang, Militärexperte beim Institut für Nationale Verteidigung und Sicherheitsforschung in Taipeh. Bis 2027 werde die chinesische Armee nicht bereit sein für eine Invasion. Entscheidend sei aber, dass Taiwan sich für den Ernstfall vorbereite, sagt Sheu im Gespräch.
Asymmetrische Kriegsführung
Taiwans Streitkräfte müssten weiter modernisiert und ausgebaut werden. Wichtig seien nicht nur mehr Schiffe, U-Boote, Flugzeuge, Panzer, sondern auch verbesserte Fähigkeiten in asymmetrischer Kriegsführung. Dafür brauche es etwa Boden-Luft-Raketen vom Typ Stinger und Panzerabwehrwaffen vom Typ Javelin, also kleine, mobile Waffen, die sehr effektiv sind, wie die Ukrainer gezeigt haben. Fachleute sprechen von einer «Stachelschwein-Strategie».
Sehr wichtig sei auch internationale Unterstützung, vor allem der militärische Beistand der USA, sagt Militärexperte Sheu. «Erst wenn es für China zu schwierig wird, Taiwan erfolgreich anzugreifen, wirkt die Abschreckung.»
Auch Aussenminister Wu verweist auf die Lehren aus dem Ukraine-Krieg: die Grenzen der angeblichen Übermacht Russland sowie die Entschlossenheit und die Kampfstrategie des kleineren Landes. Ausserdem glaubt Wu, dass sich die chinesische Führung an den Theorien alter Militärstrategen orientiert: Das oberste Prinzip sei, den Feind ohne Gewalt zu besiegen. Für Taiwan bedeutet das zunächst, dass «China einen hybriden Krieg gegen uns führt», sagt Wu.
Dabei setzen die Chinesen auf eine Mischung aus militärischen Drohgebärden, Wirtschaftssanktionen, politischer Isolation und Cyberattacken sowie Desinformationskampagnen und Wahleinmischungen. Das Ziel: Die Taiwaner sollen unter dem ständigen Druck zermürbt werden, sie sollen aufgeben und einem Anschluss an die Volksrepublik China freiwillig zustimmen.
Die Bereitschaft der taiwanischen Bevölkerung, von Peking regiert zu werden, ist aber gering. Die Beseitigung von Demokratie und Freiheit in Hongkong war Warnung genug für die Taiwaner. Zudem: Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung hat laut Umfragen längst eine taiwanische Identität angenommen.
Engere Bande zwischen Taiwan und Europa
Auf den Druck Chinas reagiert Taiwan mit einer offensiven Aussenpolitik. Der Inselstaat wird zwar nur von zwölf Ländern offiziell anerkannt, politisch isoliert ist er aber nicht, im Gegenteil. Spätestens seit Russlands Überfall auf die Ukraine findet Taipeh insbesondere im Westen immer mehr Gehör.
Joseph Wu, der nach chinesischer Auffassung gar nicht Taiwans Aussenminister ist, sondern nur «Leiter der örtlichen Abteilung für auswärtige Angelegenheiten der Region», reist unermüdlich um die Welt zu halb und inoffiziellen Gesprächen. Gleichzeitig fliegen zunehmend europäische und amerikanische Politiker nach Taipeh, um ihre Unterstützung zu versichern.
«Die Welt muss verstehen, dass Frieden und Stabilität in der Strasse von Taiwan keine innere Angelegenheit Chinas sind, sondern eine Sache der globalen Sicherheit und des globalen Wohlstands», sagt Aussenminister Wu. Taiwan schmiedet nicht nur weltweit politische Allianzen. Es versucht auch, die wirtschaftliche Abhängigkeit von China, dem nach wie vor wichtigsten Handelspartner, zu reduzieren. Dabei wird Europa immer wichtiger.
Die Gefahr durch China treibt auch die Zivilgesellschaft Taiwans um, denn kaum ein anderes Land ist so vielen Fake News ausgesetzt. So gibt es ein Heer freiwilliger Faktenchecker, organisiert in Gruppen wie dem Taiwan Factcheck Centre. International gelten sie als Vorbild für den Kampf gegen Fake News.
Desinformationen gegen Regierung und USA
Die Faktenchecker versuchen, möglichst früh fragwürdige Informationen und Nachrichten in den sozialen Medien zu identifizieren, bevor diese in den traditionellen Medien weiterverbreitet werden. Ihre Erkenntnisse veröffentlichen die Faktenchecker etwa in Chatbots wie Cofacts, die eingebettet sind in Taiwans populärstem Messenger- und Chatdienst Line.
Gegen Chinas «kognitive Kriegsführung», wie es die Regierung in Taipeh nennt, engagieren sich auch zwei grosse Nichtregierungsorganisationen: Doublethink Lab und IORG (Information Environment Research Center). Beide befassen sich mit dem Tracking ausländischer Desinformationskampagnen, die hauptsächlich aus China kommen. «Uns geht es um unsere Heimat, um unsere Freiheit und Demokratie», sagt IORG-Gründer Yu Chihao bei einem Gespräch.
In einem neueren Bericht thematisiert IORG ein zentrales Ziel der Desinformationen: Peking versucht, Misstrauen gegen die USA zu säen, auf die Taiwan im Falle eines chinesischen Angriffs angewiesen wäre. Die Botschaften dieser Fake News lauten: Die USA werden Taiwan im Stich lassen, wie sie es mit Afghanistan taten; die USA sind zu schwach, um Taiwan zu schützen.
Gleichzeitig verbreiten chinesische Propagandisten Informationen, die die amtierende Regierung in Taipeh diskreditieren sollen. Wie sich China in die taiwanische Innenpolitik einmischt, zeigt sich seit dem Herbst im Hinblick auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am kommenden Samstag.
Favorit ist Kandidat der Regierungspartei
Nach acht Jahren im Amt kann Präsidentin Tsai Ing-wen von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) nicht mehr antreten. Der bisherige Vizepräsident Lai Ching-te, auch bekannt als William Lai, kandidiert nun für das höchste Staatsamt. Gemäss den letzten Umfragen hat er beste Chancen, gewählt zu werden. Der DPP-Politiker steht für ein eigenständiges Taiwan, von Peking wird er als Separatist bezeichnet. Sein Sieg würde China missfallen.
Dagegen streben die beiden Gegenkandidaten – Hou Yu-ih von der Kuomintang (KMT) und Ko Wen-je von der Taiwanischen Volkspartei (TPP) – engere Beziehungen zur Volksrepublik China an. Die Opposition dramatisiert die anstehenden Wahlen: Auf dem Spiel stehe der Frieden. Wenn Lai Ching-te gewinne, werde es Krieg mit China geben. Klar ist: Der Wahlausgang hat einen entscheidenden Einfluss auf den weiteren Verlauf des Konflikts um Taiwan.
Der chinesische Staatschef Xi Jinping betont seit einigen Jahren und zuletzt immer entschiedener, dass die Wiedervereinigung der angeblich abtrünnigen Provinz, die 160 Kilometer östlich von China liegt, mit dem Festland unvermeidlich sei. Notfalls soll dies mit dem Einsatz militärischer Gewalt erfolgen. Dabei war Taiwan nie Teil der Volksrepublik China, sondern ist das letzte nach dem Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten verbliebene Territorium der einstigen Republik China.
Seit 1949 ist Taiwan de facto ein unabhängiger Staat, seit Ende der 1980er-Jahre hat sich das Land mit rund 23,5 Millionen Einwohnern zu einer der fortschrittlichsten Demokratien Asiens entwickelt. Taiwan ist das erste Land Asiens mit gesetzlich verankerter Ehe für alle, es hat eine vorbildliche Gesundheitsversorgung, Taiwan führte einen frühen und erfolgreichen Kampf gegen Covid, bei der Digitalisierung ist es weit fortgeschritten.
In der Halbleiterindustrie ist Taiwan eine Weltmacht. Sollte Peking den Inselstaat angreifen, droht der Weltwirtschaft eine Katastrophe. Autos, Smartphones, medizinische Geräte und Hightechwaffen könnten nicht mehr hergestellt werden. Auch China selbst, das bisher auf Taiwans Mikrochips angewiesen ist, hätte ein riesiges Problem. Insofern ist die Halbleiterindustrie gemäss einigen Experten für Taiwan eine Art Schutzschild gegen China.
Taiwan: Status quo bedeutet Frieden
Um den Konflikt mit China nicht eskalieren zu lassen, hat Taiwan nie seine staatliche Unabhängigkeit erklärt. Die formelle Unabhängigkeit ist eine rote Linie – sie wäre ein Kriegsgrund aus chinesischer Sicht. Taiwans Chinapolitik ist ein ständiger, schwieriger Balanceakt: Taipeh verfolgt einen eigenständigen Kurs, bemüht sich aber, Peking nicht zu provozieren. Darum heisst der Inselstaat offiziell nicht Taiwan, sondern immer noch Republik China.
Der Status quo bedeutet Frieden: Das ist eine Formel, die man oft hört in Gesprächen mit Taiwans Regierungsvertretern, aber auch mit Leuten auf der Strasse. Die Frage ist, wie lange China diesen Status quo duldet.
Die Reise nach Taipeh wurde unterstützt durch das taiwanische Aussenministerium.
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