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Interview zum Konflikt um Taiwan
«Xi kann beeinflusst werden, bevor er einen Krieg lostritt»

Das Militär als Drohkulisse: Xi Jinping bei einer Truppeninspektion in Zhurihe in der Inneren Mongolei.

Frau Glaser, Chinas Staatschef Xi Jinping bezeichnet die Vereinigung mit Taiwan als unvermeidlich, notfalls soll sie militärisch erzwungen werden. Wie gross ist die Gefahr einer chinesischen Invasion?

Das ist eine Möglichkeit, aber nicht unvermeidlich. Selbst Xi Jinping bevorzugt eine Vereinigung mit friedlichen Mitteln. Für ihn beinhaltet das aber auch die Anwendung von Zwangsmitteln – und zwar politisch, wirtschaftlich und militärisch. Dazu gehören Wirtschaftssanktionen, Desinformationskampagnen, Cyberattacken oder auch militärische Drohmanöver. Chinas Druck auf Taiwan ist stark angewachsen.

Die Taiwanesen reagieren bislang gelassen. Der Druck Chinas stärkt in Taiwan den Willen zur Unabhängigkeit und die Verteidigungsbereitschaft.

China hat seine Möglichkeiten, Taiwan unter Druck zu setzen, noch lange nicht ausgeschöpft. Das Ziel der Chinesen ist, psychologische Verzweiflung in Taiwan herbeizuführen und dessen Bevölkerung in einen Zustand der Resignation zu versetzen. Durch die psychologische Kriegsführung Chinas sollen die Taiwanesen das Vertrauen in ihre Regierung verlieren und vor allem zur Einsicht kommen, dass sie keine Zukunft haben, wenn sie nicht Teil von China werden. Sobald aber die Chinesen zum Schluss kommen, dass ihre Strategie des Zwangs nicht zur Wiedervereinigung führt, werden sie zunehmend dazu neigen, militärische Gewalt anzuwenden. Das ist jedoch ein Szenario, das noch lange nicht bevorsteht.

Gibt es Szenarien, die schon vorher zu einem militärischen Konflikt zwischen China und Taiwan führen könnten?

Wenn Taiwan seine formelle Unabhängigkeit erklären würde, wäre eine Invasion Chinas sicher. Das ist eine rote Linie für Peking. Den Taiwanesen ist das völlig klar, und sie verhalten sich dementsprechend klug. Eine deutliche Mehrheit will nicht, dass ihr Land zu China gehört. In Umfragen sprechen sich zwar immer mehr Taiwanesen für die Unabhängigkeit aus, die Mehrheit will jedoch am Status quo festhalten. Die Autonomie, die Demokratie und die Freiheiten, die sie haben, möchten die Taiwanesen nicht verlieren. Indem Taiwan seine Beziehungen zu anderen Ländern ausbaut und sich mehr in der internationalen Gemeinschaft einbringt, hofft es, seine Position zu stärken und China von einem Angriff abzuschrecken.

Nochmals zu den roten Linien: Gibt es weitere Situationen, die einen Angriff Chinas auf Taiwan auslösen könnten?

Wenn die USA eine formelle Verteidigungsallianz mit Taiwan eingehen würden – oder falls Taiwan versuchen sollte, Atomwaffen zu entwickeln. In diesen zwei Fällen dürfte China mit Gewalt reagieren. Taiwan hat zweimal ein Nuklearprogramm gestartet, beide Male ist das von den USA gestoppt worden. Die USA und Taiwan hatten von 1954 bis 1979 ein gegenseitiges Verteidigungsabkommen. Es wurde damals von den USA aufgehoben, als Bedingung für eine Normalisierung ihrer Beziehungen zu China.

«Die internationale Gemeinschaft muss klarmachen, dass eine Invasion Taiwans einen sehr hohen Preis für China haben würde.»

Präsident Joe Biden hat mehrmals gesagt, dass die USA Taiwan im Fall eines Angriffs Chinas militärisch verteidigen würden. Fälschlicherweise erwähnte er auch, dass die USA sich dazu verpflichtet hätten.

Eine explizite eiserne Verpflichtung zur Verteidigung Taiwans ist sehr problematisch. Erstens ist nicht klar, dass die amerikanischen Streitkräfte in jedem Fall dazu fähig sind. Zweitens würde dies in der Wahrnehmung Pekings eine Verletzung der Vereinbarung bedeuten, die zur Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen China und den USA geführt hatten. Damit würde möglicherweise ein militärischer Konflikt provoziert. Trotz Bidens Aussagen halten die USA in der Taiwan-Frage sinnvollerweise an der bisherigen Strategie der Zweideutigkeit fest. Gegenüber China muss man sich genau überlegen, was abschreckend wirkt und was einen Angriff provoziert.

Was kann China von einem Angriff auf Taiwan abschrecken?

Zunächst ist festzuhalten, dass eine Invasion nicht ohne grosse Risiken wäre, weil sie auch scheitern kann. Das würde die Position von Xi erheblich schwächen und möglicherweise sogar die Legitimität der Kommunistischen Partei infrage stellen. Es wäre auch ein herber Rückschlag für den Traum der Verjüngung respektive der Wiedergeburt der chinesischen Nation bis 2049. Vor allem muss die internationale Gemeinschaft klarmachen, dass eine Invasion Taiwans einen sehr hohen Preis für China haben würde. Dabei kann sie diesen Preis in die Höhe treiben. Im Fall von Russland ist es vor dem Angriff auf die Ukraine nicht gelungen, klarzumachen, dass dies weitgehende Sanktionen auslösen würde. Ich glaube, dass Xis Kosten-Nutzen-Rechnung beeinflusst werden kann, bevor er einen Krieg lostritt.

Was würde ein Taiwan-Krieg bedeuten?

Das wäre eine Tragödie für das taiwanesische Volk, und es hätte katastrophale Auswirkungen für die ganze Welt. Die wirtschaftlichen Folgen wären deutlich gravierender als jene des Krieges zwischen Russland und der Ukraine, weil China und Taiwan für die Weltwirtschaft viel bedeutender sind. Eine Blockade der Taiwan-Strasse für ein Jahr würde laut einer Studie der Forscher der New Yorker Rhodium Group Kosten von rund 2,5 Trillionen Dollar für die Weltwirtschaft verursachen. Taiwans Wirtschaft würde am stärksten getroffen, gefolgt von China. Aber auch Europa und der Rest der Welt würden stark in Mitleidenschaft gezogen bei einem Krieg.

Obwohl China bei einem Krieg auch sich selber schaden würde, rückt Xi Jinping kaum ab von seiner fixen Idee einer Wiedervereinigung.

Am Parteitag der Kommunistischen Partei im letzten Oktober bekräftigte Xi, wie schon frühere chinesische Leader, dass eine Wiedervereinigung mit Taiwan eine historische Mission darstelle. Er sagte aber nicht, dass dies vordringlich realisiert werden müsste. In erster Linie will er verhindern, dass Taiwan seine Unabhängigkeit erklärt. Xi wird bestimmt versuchen, das Projekt der Wiedervereinigung zu fördern. Er sagte aber nicht, dass sie in seiner Amtszeit erreicht werden muss. Wichtig ist vor allem, dass China sich auf dem Weg zur Wiedervereinigung mit Taiwan wähnt – und glaubt, dass dieser Traum irgendwann in der Zukunft Realität wird. Taiwan und die USA haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass China nicht zum Schluss kommt, es gehe nicht ohne Militäreinsatz. Das Taiwan-Problem kann nicht gelöst, aber gemanagt werden. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass nach Xi vielleicht ein chinesischer Führer folgt, der flexibler ist in der Taiwan-Frage.

Freundlichkeit trotz Rivalität: Xi Jinping und Joe Biden bei einem Treffen anlässlich des G-20-Gipfels in Bali.

Geht es bei der Rivalität zwischen Washington und Peking vor allem darum, wer die wirkliche Supermacht ist?

In den letzten Jahren ist in den USA die Erkenntnis gewachsen, dass China die grösste geopolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts darstellt, weil es nicht nur die Vorherrschaft in Asien anstrebt, sondern auch globale Ambitionen verfolgt. Gemäss den Worten von US-Aussenminister Antony Blinken ist China das einzige Land, das über die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht verfügt, um die internationale Ordnung ernsthaft herauszufordern.

Was heisst das konkret?

China bedeutet eine beispiellose Bedrohung für die Demokratie weltweit, für die USA und ihre Verbündeten, für ihre Interessen und Werte sowie für die Normen der internationalen Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. In der Analyse der Gefahren durch die wachsenden globalen Ambitionen Chinas sind sich die ansonsten in fast allen Fragen zerstrittenen Republikaner und Demokraten einig. Die Trump-Regierung verheimlichte nicht ihr Ziel eines Regime-Change in China. Der damalige Aussenminister Mike Pompeo sagte in einer Rede, man müsse die Chinesen ermutigen, einen politischen Wandel in China herbeizuführen – ein Euphemismus für den Sturz des kommunistischen Regimes.

Und die Biden-Regierung?

Sie ist von diesem Ziel abgerückt. Sie ist realistisch genug, um zu wissen, dass die Möglichkeiten, die chinesische Innenpolitik zu beeinflussen, begrenzt sind. Ein Regimewechsel in China wird nie von aussen kommen, er muss innen stattfinden.

«Die plötzliche Abkehr von der Zero-Covid-Politik war der grösste Fehler von Xi Jinping in seiner bisher zehnjährigen Amtszeit.»

Wie interpretieren Sie die Massendemonstrationen im vergangenen November in mehreren Städten Chinas?

Es war nicht klar, ob sich die Proteste in erster Linie gegen die damalige Zero-Covid-Politik richtete oder auch generell gegen die Führung um Xi und die Kommunistische Partei. Die chinesische Politik ist oft undurchsichtig. Dass die Bevölkerung sich erhebt, um die Regierung zu stürzen, ist allerdings äusserst unwahrscheinlich, zumindest in naher Zukunft. Die Regierung fürchtet Farbenrevolutionen wie in Georgien oder der Ukraine, sie ist extrem paranoid. Die Überwachung in China ist mittlerweile derart fortgeschritten und effizient, dass die meisten Menschen Angst haben, Kritik am Regime zu üben, geschweige denn, sich gegen dieses aufzulehnen.

Chinas abrupte Abkehr von der Zero-Covid-Politik erweist sich als Debakel, weil sie sehr viele Tote fordert. Wie stark schadet das dem Regime?

Die Corona-Politik zu ändern, ohne Vorbereitungen zu treffen, war der grösste Fehler von Xi Jinping in seiner nunmehr zehnjährigen Amtszeit. Die Regierung kann zwar die Zahl der Todesopfer verschweigen, aber die Bevölkerung weiss Bescheid, was im Land passiert. Xi hatte stets gesagt, dass Chinas System allen anderen Systemen überlegen sei im Umgang mit der Pandemie. Und dass man jede Regierung daran messen müsse. Jetzt beansprucht die Partei für sich, dass ihre Pandemiepolitik immer richtig gewesen sei, sowohl bei den Lockdowns als auch beim plötzlichen Ende der Zero-Covid-Politik. Es ist sehr gut möglich, dass die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung dieses Narrativ akzeptiert. Wie gross die schweigende Minderheit ist, die das anders sieht, können wir nicht wissen.

Russisch-chinesische Partnerschaft: Wladimir Putin und Xi Jinping beim Wirtschaftsforum in St. Petersburg.

Wie schaut China auf den Ukraine-Krieg, den sein Partner Russland begonnen hat?

Xi Jinping wird kaum zufrieden sein, weil sich der Krieg in die Länge zieht. Vor allem das Szenario einer Niederlage Russlands und damit dessen Schwächung als Partner kann nicht im Interesse Chinas sein. China verfolgt eine Pro-Russland-Neutralität. Es hat die Invasion Russlands nicht verurteilt, was nicht überraschend ist. Gleichzeitig unterstützt China die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine, auch wegen seines Anspruchs auf die eigene Souveränität über Taiwan. Zudem unterhält China separate Beziehungen mit der Ukraine, mit der es starke wirtschaftliche Interessen verbindet. Je länger der Ukraine-Krieg dauert, desto schlechter ist das für China. Der Krieg hat auch die Spannungen zwischen Europa und China verschärft. So wurde zum Beispiel das Investitionsabkommen zwischen der EU und China auf Eis gelegt.

Besteht die Gefahr, dass – in Anlehnung an George W. Bush – eine neue Achse des Bösen entsteht: mit China, Russland, Nordkorea und dem Iran?

China hat kein Interesse an einer Aufteilung der Welt in zwei Blöcke. China möchte in der Weltwirtschaft integriert sein. Es strebt gute Beziehungen auch zum Westen an. Ansonsten ist sein Grossprojekt zur Verjüngung der chinesischen Nation bis 2049 gefährdet. Zudem verfolgt Peking eine zweigleisige Politik, die die Welt abhängiger von China machen soll und gleichzeitig China weniger abhängig von der Welt.