Interview zu Konflikt um Taiwan«Die Chinesen sind immer wütend – egal, was Taiwan macht»
Mit seinem Säbelrasseln teste das Regime in Peking die roten Linien Taiwans, sagt Fang-Yu Chen, Politologe in Taipeh. Er glaubt, dass China schon bald unberechenbarer und gefährlicher werden könnte.
Nach Nancy Pelosi hat auch eine Delegation von US-Kongressabgeordneten Taiwan besucht. China reagierte erneut mit Militärmanövern und Sanktionen. Wie schaut man in Taiwan auf die zunehmenden Spannungen mit China?
Die Bedrohungen durch China sind Normalität für die Menschen in Taiwan. Man hat längst gelernt, damit zu leben. Bevölkerung und Regierung verhalten sich gelassen. Die Menschen in Taiwan rechnen nicht mit einem baldigen Krieg, aber sie wissen, dass sie sich darauf vorbereiten müssen. Taiwans Botschaft angesichts der jüngsten Drohungen ist, dass man sich nicht einschüchtern lässt. Vor ein paar Tagen hat China Sanktionen auch gegen sieben hohe Amtsträger und Politiker Taiwans verhängt. Diese Leute dürfen es als Ehre ansehen, von China sanktioniert worden zu sein. In Taiwan sind sie beglückwünscht worden.
Taipeh und Washington haben die Aufnahme von Handelsgesprächen angekündigt. Das hat Peking nochmals verärgert.
Die Chinesen sind immer wütend, egal, was die Taiwanesen machen. Für Taiwan sind die Gespräche für Handelsabkommen mit den USA sehr bedeutend, es hat zwei Jahrzehnte darauf gewartet. Das ist umso wichtiger, als die Chinesen versuchen, Taiwan immer mehr zu isolieren. Auch für die USA sind die Handelsgespräche mit Taiwan sehr wichtig, nicht nur wegen der Etablierung von sicheren Lieferketten, sondern auch für ihre Strategie im indopazifischen Wirtschaftsraum. Im Weiteren könnte ein Handelspakt zwischen Taiwan und den USA auch ein Modell sein für Abkommen mit anderen Ländern. Taiwans Wirtschaft muss sich unabhängiger machen von China. Zurzeit gehen rund 40 Prozent der Exporte nach China,
Wie stark treffen die bisherigen Sanktionen Taiwans Wirtschaft?
China hat vor allem den Import von landwirtschaftlichen Produkten aus Taiwan verboten. Es ist mit weiteren Sanktionen zu rechnen, die Taiwan auch härter treffen könnten. Unwahrscheinlich sind Strafmassnahmen gegen Taiwans wichtige Hightechindustrie, da China selber davon abhängt.
Bringt die demonstrative Annäherung an die USA Taiwan nicht unnötig in Schwierigkeiten mit China?
Für Taiwan waren die Besuche von Nancy Pelosi und den weiteren US-Kongressabgeordneten sowie die Ankündigung von Handelsgesprächen sehr wichtig. Die USA wollen die Taiwan-Frage internationalisieren. Dass der Konflikt mit China stärker im Fokus der Weltöffentlichkeit steht, ist auch im Sinne von Taiwan. So ergibt sich eine grössere Chance, dass freiheitliche, demokratische Staaten Taiwan stärker unterstützen.
Was ist an der militärischen Front in nächster Zeit zu erwarten?
Im Moment besteht keine Gefahr eines militärischen Konflikts. Chinas Präsident Xi Jinping möchte zwar, vor allem aus innenpolitischen Gründen, Stärke zeigen, aber gleichzeitig eine ernsthafte Eskalation mit Taiwan und den USA vermeiden. Zumindest bis zum Kongress der Kommunistischen Partei im November, bei dem er im Präsidentenamt bestätigt werden will. Danach könnte die chinesische Politik gegenüber Taiwan unberechenbarer werden, und es könnte wirklich kritische Entwicklungen geben.
Können Sie das erläutern?
Ein aggressiveres Vorgehen der Chinesen könnte bedeuten, dass sie mit ihren Militärmanövern näher und dauerhafter an Taiwan heranrücken. China dürfte versuchen, die Souveränität Taiwans und dessen Kontrolle darüber auszuhöhlen. Dabei würde sich das Risiko von Fehlkalkulationen und Zusammenstössen erhöhen – und das könnte eine rasche Eskalation auslösen. Chinas Militärmanöver und Sanktionen der letzten drei Wochen bewegten sich weitgehend im Rahmen der Aggressionen Chinas in den letzten Jahren. Wirklich neu und bedrohlich bei den chinesischen Militärübungen nach dem Pelosi-Besuch war der Abschuss von elf Raketen. Taiwans Luftraum wurde dabei nicht verletzt, das kann sich aber ändern.
«Taiwans Armee handelt nach dem Prinzip ‹Einen Krieg vorbereiten, ohne einen Krieg zu wollen›.»
Ist es denkbar, dass die Chinesen als Testlauf die von Taiwan kontrollierten Inseln Kinmen und Matsu, die in der Nähe von Chinas Küste liegen, besetzen?
Möglich ist das schon, aber es wäre nicht sehr klug, weil China dann mit internationalen Sanktionen rechnen müsste. Wahrscheinlicher sind feindselige, einschüchternde Aktionen gegen die beiden Inseln. Im Moment will China die roten Linien Taiwans testen, wie es das eigentlich schon seit vier Jahren tut.
Was sind die roten Linien Taiwans?
Die nationale Souveränität und die territoriale Integrität, inklusive seiner Gewässer und seiner Inseln. Taiwan wird reagieren, falls China rote Linien überschreitet. Bei einem Angriff wird Taiwan zurückschlagen. Taiwans Armee handelt nach dem Prinzip «Einen Krieg vorbereiten, ohne einen Krieg zu wollen».
China will die Vereinigung mit Taiwan notfalls militärisch erzwingen. Die maximale Gefahr für Taiwan sehen manche Experten in den Jahren 2024 bis 2026, andere eher am Ende der 2020er-Jahre oder Anfang der 2030er-Jahre. Wie sehen Sie das?
Autokratien können sehr unberechenbar sein, wie zum Beispiel Russland zeigt. Die meisten Experten hatten nicht mit einem Angriff Russlands auf die Ukraine gerechnet, weil es nicht besonders clever sei, einen solchen Krieg anzuzetteln. Was in der chinesischen Führung genau vor sich geht, wissen wir nicht. In der Taiwan-Frage müssen mehrere Faktoren berücksichtigt werden, etwa der zunehmende Nationalismus in China, aber auch die wirtschaftliche Lage, die zurzeit alles andere als gut ist.
Was kann das für Taiwan bedeuten?
Je grösser die wirtschaftlichen und die innenpolitischen Probleme in China sind, desto wahrscheinlicher ist eine davon ablenkende, aggressivere Politik gegenüber Taiwan. Die sogenannte Wiedervereinigung mit Taiwan ist für Chinas Führung eine heilige, historische Mission, wobei Peking eine eigenwillige Sicht auf die Geschichte pflegt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass China eines Tages versuchen wird, Taiwan zu erobern.
Wie gut ist Taiwan auf einen Krieg mit China vorbereitet?
Die taiwanesische Regierung sagt immer, man sei bereit für die Verteidigung. Das stimmt schon, aber es ist auch eine Tatsache, dass bei den Streitkräften noch viele Dinge verbessert werden müssen. Beispielsweise wollen sie eigene U-Boote, die aber noch nicht fertig gebaut sind. Die laufende Reform der Reservekräfte müsste endlich vollendet werden. Das Ziel sind häufigere und professionellere Trainingsprogramme für die Reservesoldaten. Schliesslich braucht Taiwan weitere Waffenlieferungen von den USA. Zwischen Taipeh und Washington laufen derzeit Gespräche über die Prioritäten bei der Verteidigung Taiwans. Im Gegensatz zu den USA will Taiwan nicht nur seine Landstreitkräfte stärken, sondern auch Luftwaffe und Marine.
Glaubt man in Taiwan, dass die USA im Ernstfall auch direkte Unterstützung bei den Kämpfen leisten würden?
Diese Frage ist offen. Im Ukraine-Krieg sehen wir, dass die USA Waffen und Geheimdienstinformationen liefern, aber nicht direkt an den Kämpfen gegen die Russen beteiligt sind. Das hat in der taiwanesischen Öffentlichkeit die Haltung verstärkt, dass sich Taiwan nicht zu sehr auf die USA verlassen sollte. Zudem verfolgen die Amerikaner gegenüber China weiterhin die Doktrin der strategischen Zweideutigkeit, obwohl Präsident Joe Biden dreimal gesagt hat, dass die USA den Taiwanesen militärisch beistehen würden. In Taiwan selber ist die Verteidigungsbereitschaft in der Bevölkerung Umfragen zufolge deutlich gestiegen.
«Die chinesische Formel ‹Ein Land, zwei Systeme› wird von über 80 Prozent der taiwanesischen Bevölkerung abgelehnt.»
Wie wünschen sich die Taiwanesen die Zukunft ihres Landes und dessen Verhältnis zu China?
Taiwan ist de facto unabhängig, aber nicht de jure. Eine formelle Unabhängigkeitserklärung wäre zu riskant, weil China dann mit grosser Wahrscheinlichkeit gewaltsam reagieren würde. In Taiwan gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens, am Status quo festzuhalten. Im Zuge der Demokratisierung seit den frühen 1990er-Jahren ist die Zustimmung für eine selbstbestimmte Zukunft Taiwans laufend gestiegen.
Können Sie das mit Zahlen belegen?
Gemäss Umfragen fühlen sich fast zwei Drittel der Bevölkerung nur als Taiwanesen. Die chinesische Formel «Ein Land, zwei Systeme» wird von über 80 Prozent abgelehnt. In Taiwan hat man genau mitverfolgt, was in Hongkong geschehen ist. Taiwan hat sich als freiheitliches, demokratisches Land mit guter Regierungsführung etabliert. Damit widerlegt Taiwan die Behauptung der chinesischen Führung von der Überlegenheit ihres autoritären Systems. Insofern ist es China, das Angst vor Taiwan hat.
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