Gastkommentar zum Ukraine-KriegWie sich die Situation Taiwans von der der Ukraine unterscheidet
Russland erlebt in der Ukraine, wie schwierig der Überfall eines Landes ist, dessen Bevölkerung zum Widerstand bereit ist. Ein Angriff auf Taiwan wäre noch schwieriger.
Ein Versuch Festlandchinas, Taiwan gewaltsam mit der Volksrepublik zu vereinen, stellt die wahrscheinlichste Ursache für einen grösseren Konflikt zwischen China und den USA dar. Durch die russische Invasion in der Ukraine ist diese Problematik erneut in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Tatsächlich gibt es einige Parallelen zwischen den beiden Fällen.
Wie Präsident Putin bei der Ukraine, besteht auch Chinas Präsident Xi darauf, dass Taiwan keine eigene nationale Identität hat, sondern sowohl das Festland als auch Taiwan Teil «einer Familie» sind. Präsident Putins Narrativ, Russlands «frühere Grösse» wiederherstellen zu wollen, ähnelt Xis Versprechen, eine «Wiedervereinigung mit Taiwan» zu erreichen. Ein weiterer Faktor, den Taiwan und die Ukraine gemeinsam haben, ist das historische und kulturelle Erbe mit dem «feindlichen Anderen» und die Machtasymmetrie zu einem viel grösseren Nachbarn.
Worin sich Taiwan von der Ukraine unterscheidet
Es gibt jedoch auch einige entscheidende Unterschiede zwischen den beiden Fällen. Erstens hat Taiwan einen immensen geostrategischen Wert für die USA und deren Verbündete in der Region wie Japan und Australien. Zweitens ist die Beteiligung der USA eine Variable, die sich in diesen Fällen sehr unterschiedlich auswirkt. Vor Beginn des Kriegs hat Präsident Biden deutlich erklärt, dass Amerika in einen Krieg in Europa nicht eingreifen würde, aber dass es «eine Verpflichtung hat, Taiwan zu helfen».
Der dritte erwähnenswerte Punkt ist das unterschiedliche Verhältnis der beiden Länder hinsichtlich internationaler Verteidigungsabkommen. Da die Ukraine kein Nato-Mitglied ist, sind ihr die USA und andere Verbündete nicht zum Beistand verpflichtet. Das US-Gesetz über die Beziehungen zu Taiwan (Taiwan Relations Act) hingegen bildet eine solide Grundlage für Waffenlieferungen und eine direkte Rolle des US-Militärs. Es besagt, dass die USA sicherstellen würden, dass Taiwan über die Mittel zur Selbstverteidigung verfügt, aber auch, dass sie «die Fähigkeit der USA aufrechterhalten würden, sich jeglichem Einsatz von Gewalt oder Zwang zu widersetzen, der die Sicherheit oder das soziale oder wirtschaftliche System der Bevölkerung Taiwans gefährden würde».
Viertens gibt es in Taiwan keine prochinesische Region, vergleichbar mit der prorussischen im Donbass. Laut einer Studie des Election Study Center der National Taiwan University aus dem Jahr 2021 ist der Prozentsatz derjenigen Taiwaner, die «eine möglichst baldige Wiedervereinigung befürworten», und derjenigen, die «die Beibehaltung des Status quo befürworten, aber eine Wiedervereinigung in der Zukunft wünschen», zwischen 1994 und 2021 von 4,4 auf 1,4 Prozent respektive von 15,4 auf 6 Prozent zurückgegangen.
Plötzlich sieht alles anders aus
Die Sicherheitslage Taiwans wird dennoch durch die Tatsache erschwert, dass die meisten Länder der Welt Taiwan nicht als souveränen Staat anerkennen. Die chinesische Führung könnte behaupten, dass eine Invasion notwendig sei, um regierungsfeindliche Aktivitäten in einer der eigenen Regionen zu unterdrücken, und dass solche Handlungen daher nicht gegen internationales Recht verstossen würden.
Während Xi und die Volksbefreiungsarmee in der Anfangsphase der Invasion in der Ukraine auf eine schnelle Entscheidung des Kriegs gehofft haben könnten, hat sich die Situation nun radikal geändert. Der zähe Fortschritt der russischen Armee hat gezeigt, wie schwierig es ist, ein Land zu besiegen, wenn die Bevölkerung zum Widerstand bereit ist.
Dauerhaft feindliche Beziehungen zum Westen als Folge
China hat statt einer direkten Invasion viele andere Möglichkeiten, um Taiwan einzuschüchtern. Dazu gehören verschärfte Wirtschaftssanktionen, verdeckte Operationen, Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen, die Blockade von Taiwans Häfen oder die Besetzung kleiner, von Taiwan kontrollierten Inseln in den umliegenden Meeren.
Taiwan zeigt das Dilemma von Drittstaaten in Europa und Asien auf, die versuchen, eine werteorientierte Aussenpolitik mit ihren wirtschaftlichen Interessen abzustimmen. Europa und die Schweiz können zur Aufrechterhaltung des friedlichen, demokratischen Systems in Taiwan beitragen, indem sie mit anderen zusammenarbeiten und somit zeigen, dass dies ein globales Anliegen ist. Die Folgen jedes Versuchs einer erzwungenen Vereinigung müssen Peking klar sein: dauerhaft feindliche Beziehungen zum Westen; die Konsolidierung einer Koalition, die entschlossen ist, Chinas Macht im indopazifischen Raum einzudämmen; und massive, koordinierte wirtschaftliche Bestrafung.
* Simona A. Grano ist Privatdozentin an der Universität Zürich und leitet dort das Taiwan Studies Project.
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