Schweizer Krisendiplomatin in Syrien«Die Menschen lächeln mehr. Aber es gibt auch Angst»
Diese Woche kehrte Caroline Tissot erstmals seit dem Sturz des Assad-Regimes nach Damaskus zurück. Das sind die Eindrücke der einzigen Schweizer Vertreterin im Land.

- Caroline Tissot leitet interimistisch das Schweizerische humanitäre Büro in Syrien.
- Es fehlt in Syrien an Treibstoff, Wasser und regelmässiger Stromversorgung.
- Die Schweiz unterstützt humanitäre Projekte, insbesondere Bildung für vertriebene Kinder.
Sie ist unsere Frau in Syrien. Caroline Tissot ist derzeit die einzige Schweizer Diplomatin, die sich im Land aufhält, wo vor kurzem ein Machtwechsel stattgefunden hat. Sie leitet interimistisch das humanitäre Büro der Schweiz in Damaskus, das fünf lokale Angestellte beschäftigt. Normalerweise ist die erfahrene Krisendiplomatin in Jordanien stationiert. Von dort reist sie als Regionalchefin des Schweizer Aussendepartements (EDA) für die internationale Zusammenarbeit im Nahen Osten immer wieder ins Nachbar- und Bürgerkriegsland – diese Woche zum ersten Mal seit dem Sturz von Diktator Bashar al-Assad vor einem Monat. Hier erzählt sie von ihren Eindrücken.
«Ich bin am Mittwoch nach Syrien zurückgekehrt. Die Fahrt im Auto von Amman aus dauerte nur etwas mehr als drei Stunden. Grenzübertritt und Reise verliefen problemlos. Es gab keine Checkpoints.» Sie sei «überall gut empfangen» worden: «Die Leute waren immer schon überaus gastfreundlich, aber jetzt ist die Atmosphäre leichter, die Menschen lächeln mehr, und sie sprechen auch mehr mit uns.»
Uniformen sehe man in Damaskus nur wenige, sagt Tissot. In Abwesenheit von Polizisten sei der Verkehr noch wilder geworden. Es gebe auch Berichte über mehr Kleinkriminalität. «Wir sind davon abgekommen, am Abend längere Strecken zu Fuss zurückzulegen, was wir früher taten. Davon wird jetzt abgeraten.»
In Syrien fehlen Treibstoff und Wasser
Eines der grossen aktuellen Probleme liege in der Versorgung mit Lebenswichtigem. Treibstoff fehlt, die Banken geben kaum mehr Geld heraus, was die Wirtschaft weiter lähmt, Wasser gibt es zu wenig. Strom habe man in Damaskus nur alle acht Stunden für eine Stunde, sagt Tissot. «Dies ist nicht ganz neu, aber vorher hatten die privilegierten Teile der Stadt mehr Strom», weiss die Westschweizerin. «Heute sind nicht mehr nur die Vorstädte von den Stromausfällen betroffen, sondern alle.» Das erschwere die Arbeit: «Die Spitäler haben Probleme, zumal deren Generatoren mit Benzin laufen, das ebenfalls Mangelware ist.» Das Schweizer Büro habe zum Glück eine Solaranlage auf dem Dach.

Das EDA führt gemäss eigenen Angaben seit 2011 in Syrien und den Nachbarländern «eine der grössten humanitären Aktionen in der Geschichte der Schweiz» durch. 730 Millionen Franken habe man für die Bevölkerung zur Verfügung gestellt. Im Dezember sprach der Bund weitere 2 Millionen Nothilfe, die über internationale Organisationen verteilt werden.
«Am Donnerstag trafen wir einen Vertreter der neuen Machthaber», sagt Tissot. «Von unserer Seite waren drei Frauen dabei, was kein Problem darstellte.» Die lokalen Mitarbeiterinnen trügen keinen Hijab. Auf den Strassen in Damaskus – so Tissots Eindruck aus drei Tagen – seien nicht mehr verschleierte Frauen als früher zu sehen. «Auffällig ist auch, dass man immer noch Frauen mit Kopftuch sieht, die stark geschminkt sind und enge Kleidung tragen.»
Im Gespräch sei die humanitäre Hilfe ein Hauptthema gewesen. Viele Syrerinnen und Syrer sind davon abhängig. Prekär ist die Situation in den Flüchtlingslagern, insbesondere im Nordwesten des Landes. Die Millionen Menschen, die dort in Zelten und anderen Behausungen leben, würden vielleicht gern in ihre Heimatorte zurückkehren, aber ihre Häuser sind geplündert, beschädigt oder zerstört.
Die Schweiz lehrt Käsen
«Die Syrerinnen und Syrer wollen unabhängig von Hilfe sein, sie wollen ihr Leben selbst bestimmen», sagt Tissot. «Das spürt man stark.» Die Diplomatin erzählt von einer Frau, die mit ihren Kindern nach Damaskus geflüchtet ist. Die Familie lebte in einem Keller ohne Fenster, mit ein paar Matratzen. Da die Frau gut kochen könne, habe sie die Idee gehabt, ein Business aufzubauen. «Über die Caritas Schweiz lernte sie, Käse herzustellen, und belegte einen Kurs in Buchhaltung sowie anderen Grundlagen für eine Geschäftsführung. Sie konnte sich dank der Schweizer Unterstützung einen Kühlschrank und einen Herd anschaffen und fing an, ihre Produkte auf einem Markt zu verkaufen.» Bald sei sie in der Lage gewesen, ihre Familie selbst zu versorgen und ihren Kindern zu ermöglichen, die Schule zu besuchen. «Darauf ist sie sehr stolz.»
Ein weiterer Schweizer Hilfsschwerpunkt liegt bei der Bildung: «Wir unterstützen Nachhilfeunterricht. Davon profitieren insbesondere Kinder, die mehrfach vertrieben worden sind und die deshalb den Anschluss in der Schule verpasst haben», sagt Tissot. Viele ältere Schülerinnen und Schüler seien Analphabeten, weil sie nie regelmässig den Unterricht besuchen konnten. «Sie schämen sich dafür. Zum Beispiel konnten wir einem Mädchen helfen, das zwölf Jahre alt war, weder lesen noch schreiben konnte und sich schämte, in einer tiefen Klasse eingeschult zu werden.» Tissot sagt, sie hoffe, dass die Schweiz ihre Aktivitäten weiterführen und ausbauen könne.
Am Donnerstag auf dem Heimweg von der Arbeit habe sie einen Slam-Poeten auf der Strasse gesehen, erzählt Tissot. «Das gab es früher nicht. Man spürt überall die Hoffnung, aber es gibt auch Angst.» Im Norden des Landes wird immer noch gekämpft. «Aber die Friedenshoffnungen, die schon oft enttäuscht wurden, überwiegen.»
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