Analyse zum FamiliennachzugVölkerrecht? Egal!
Die SVP und die Mitte-Partei wollen ein weiteres Urteil des europäischen Menschenrechtsgerichtshofs nicht umsetzen. Wird das nun zur Gewohnheit?
Im Frühjahr rügte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz, weil sie nicht genug gegen den Klimawandel tue. Das Klima-Urteil löste heftige Kritik aus. Das Parlament drückte seinen Protest in Form einer Erklärung aus: Der Bundesrat solle den zuständigen Gremien mitteilen, dass die Schweiz «keinen Anlass sehe, dem Urteil des Gerichtshofs weitere Folge zu geben».
Kritiker aus dem links-grünen Lager warnten, mit dieser Erklärung untergrabe die Schweiz die Legitimität des EGMR. Die Befürchtung: Wenn ein Staat wie die Schweiz EGMR-Urteile missachtet, könnten sich andere – vor allem autoritäre – Staaten ermuntert fühlen, das ebenfalls zu tun. Und zwar auch dann, wenn es um Menschenrechte im engen Sinn geht.
Nun zeigt sich: Nicht nur in Schurkenstaaten, sondern auch in der Schweiz erodiert der Respekt vor der Menschenrechtskonvention und dem Gerichtshof. In der Schweiz, die andere dazu aufruft, das Völkerrecht zu respektieren, wird um ein Urteil gestritten. Schon wieder.
Wartefrist ist laut Gericht zu lang
Diese Woche wurde bekannt, dass zwei Parteien – die SVP und die Mitte – ein EGMR-Urteil nicht gesetzlich umsetzen wollen, das Geflüchtete und deren Familien betrifft. Dass die SVP die Umsetzung ablehnt, war zu erwarten. Sie fordert ohnehin, dass die Schweiz die Menschenrechtskonvention kündigt. Die Mitte-Partei hingegen war bis anhin nicht auf Konfrontationskurs mit Menschenrechten und Gerichten. Wie kommt sie dazu, sich zur SVP zu gesellen?
Zur Debatte steht eine Gesetzesänderung, die vorläufig aufgenommene Personen betrifft, zum Beispiel Kriegsflüchtlinge. Sie sollen bereits nach zwei Jahren statt wie bisher erst nach drei Jahren ein Gesuch um Familiennachzug stellen dürfen. Der Bundesrat will die Frist wegen zweier Gerichtsurteile verkürzen.
Der EGMR hatte 2021 eine Beschwerde gegen Dänemark gutgeheissen. Im Grundsatzurteil hielt er fest, eine Wartefrist von mehr als zwei Jahren sei unvereinbar mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens gemäss Artikel 8 der Menschenrechtskonvention. Bei einer dreijährigen Wartefrist bleibe eine Familie sehr lange getrennt – wegen der Dauer der Flucht sogar länger als drei Jahre.
Die Praxis wurde schon angepasst
Das Urteil gilt auch für die Schweiz. Das Bundesverwaltungsgericht wies das Staatssekretariat für Migration (SEM) 2022 an, die gesetzliche Wartefrist von drei Jahren «ab sofort» nicht mehr anzuwenden. Seither prüft das SEM nach zwei Jahren, ob die Voraussetzungen für den Familiennachzug gegeben sind, wenn vorläufig Aufgenommene ein Gesuch stellen.
Der Bundesrat will nun das Gesetz entsprechend ändern. Er rechnet nicht damit, dass es deswegen zu einer Zunahme von Familiennachzügen kommt, denn die Hürden bleiben hoch. Dazu gehört unter anderem die finanzielle Unabhängigkeit der Familie. In den letzten fünf Jahren haben die Behörden pro Jahr durchschnittlich 126 Gesuche von vorläufig Aufgenommenen gutgeheissen.
Doch die Mitte-Partei lehnt die Gesetzesänderung ab. Sie erkenne keinen zwingenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf, schreibt sie in ihrer Vernehmlassung. In den Gerichtsurteilen werde lediglich betont, dass ab einer Wartefrist von zwei Jahren eine Einzelfallprüfung zu erfolgen habe, und das werde bereits heute so gehandhabt.
Die Mitte, eine Familienpartei?
Immerhin: An der bereits geänderten Praxis rüttelt die Mitte also nicht. Sie will bloss das Gesetz nicht entsprechend anpassen. Offenbar will sie sich nicht dazu bekennen, eine kürzere Frist für den Familiennachzug zu befürworten. Befürchtet sie, dass das unpopulär sein könnte? Das wäre umso erstaunlicher, als es um die Familie geht. Und um das Kindeswohl. Um Kinder, die ihre Väter oder Mütter jahrelang nicht gesehen haben.
Man kann es sich aber nicht anders erklären: Die Mitte-Partei als selbst ernannte Familienpartei – und als Partei, die bis vor kurzem ein christliches C im Namen trug – will lieber das Image der asylpolitischen Hardlinerin pflegen, als für Familien, Menschenrechte und den Respekt vor den Institutionen einzustehen.
Die FDP – ebenfalls nicht bekannt für einen asylpolitischen Kuschelkurs – zeigt hier mehr Rückgrat. Sie unterstützt die Gesetzesänderung, obschon sie «materiell gesehen die bisherige dreijährige Dauer bevorzugt hätte». Ein Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeige, dass die geplante Anpassung der Schweiz den internationalen Standards entspreche, schreibt die FDP. Und: «Es ist für die Schweiz als Rechtsstaat wichtig, ihre internationalen Verpflichtungen, insbesondere jene aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, zu respektieren und umzusetzen.» Dem ist nichts hinzuzufügen.
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