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Meinung

Philipp Loser über das Klimaseniorinnen-Urteil
Ist Klimaschutz ein Menschenrecht?

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Wir können heute noch nicht exakt absehen, was das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gegen die Schweiz und für die Klimaseniorinnen für Konsequenzen haben wird. Für die Schweizer Politik, für die internationale Politik, für uns Menschen.

Interessant ist auf jeden Fall, wie in der Schweiz die verschiedenen Protagonisten (Direktbeteiligte, Beobachtende) das Urteil sofort in ihre eigene Lebens- und Erfahrungswelt integriert haben. Für die Grünen war es die Bestätigung aller ihrer bisherigen Befürchtungen und der Beweis dafür, dass der Staat sofort mehr gegen den Klimawandel unternehmen muss.

Für die SVP wiederum war das Urteil aus Strassburg der ultimative Sündenfall, das Musterbeispiel der «fremden Richter», die von Europa aus die Schweizer Demokratie bodigen wollen. Ein Skandal!

Für all jene dazwischen war es nicht ganz so einfach. In den Tagen nach der Urteilsverkündung stellten sich einige interessante und ziemlich komplexe Fragen: Wenn der Schutz des Klimas jetzt ein Menschenrecht ist, was bedeutet das für den Einzelnen? Sind Menschenrechte nicht immer an das Individuum gebunden? Gibt es eine Art Hierarchie unter den Menschenrechten? Schwächt die Ausweitung der Menschenrechte am Schluss die althergebrachten Menschenrechte? Die klassischen? Das Recht auf Leben und Freiheit? Das Verbot von Folter und Sklaverei? Die Gleichheit vor dem Gesetz oder die Meinungsfreiheit?

Anruf bei Markus Schefer, Professor für Staatsrecht an der Universität Basel, Experte für Menschenrechte.

Warum können Menschenrechte plötzlich für ganze Gesellschaften gelten, Herr Schefer?

«Das hat mit der Art der Bedrohung zu tun. Menschenrechte sind per se individualbezogen, weil die Gefährdungen historisch gesehen meist individuell waren. Beim Klimawandel ist das anders, es ist eine untypische Bedrohung: eine, die für uns alle gleichermassen gilt.»

Untypisch ist die Bedrohung auch, weil wir ihre Konsequenzen zum Teil erst irgendwann später in voller Härte spüren werden. «Diese zeitliche Komponente ist anders als im klassischen Menschenrechtsbegriff.»

Angesichts der Eindeutigkeit des wissenschaftlichen Konsenses müssten wir als Gesellschaft aber zügig etwas gegen den Klimawandel unternehmen, sagt Schefer. Sonst würden die Schäden schwerwiegend und irreversibel sein. Ergo: Die Bedrohung ist heute schon gegeben.

Darum sei es auch keine Verwässerung des Menschenrechtsbegriffs – sondern eine logische Erweiterung.

Sechzehn von siebzehn Richterinnen und Richtern am EGMR haben im Fall der Klimaseniorinnen ebenfalls so argumentiert. Einer, der Brite Tim Eicke, sah es anders. Er ist kein Leugner des Klimawandels, das Urteil geht ihm aber aus verschiedenen anderen Gründen zu weit. Eicke glaubt beispielsweise nicht, dass der Klimaschutz durch die Menschenrechtskonvention abgedeckt ist.

Und selbst wenn das jetzt in Strassburg ein sehr deutliches Resultat war, scheint die Diskussion um diese alles entscheidende Frage noch nicht vorüber: Kann man die Menschenrechtskonvention so lesen, dass auch der Klimaschutz dazugehört? Ganz grundsätzlich?

In der Konsequenz würde das bedeuten, dass der Schutz des Klimas aus der staatlichen Souveränität herausgelöst würde. Weil Menschenrechte universell sind, werden sie nicht von einzelnen Staaten autonom bestimmt (nicht einmal in der direktdemokratischen Schweiz), sondern von der völkerrechtlichen Gemeinschaft. Das ist das Wesen von Menschenrechten.

Will man das? Wollen wir das?

Vielleicht ist das die falsche Frage. Und die richtige eher diese: Muss es nicht der Anspruch eines aufgeklärten (und ambitionierten) Staates sein, die Menschenrechte stets weiterzuentwickeln und der Welt anzupassen?

Philipp Loser ist Redaktor des «Tages-Anzeiger».