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Interview zum Klimaseniorinnen-Urteil
«Strassburg hat die Grenze zwischen Recht und Politik ein Stück weit verschoben»

Andreas Müller, Völkerrechtsprofessor an der Universität Basel, überrascht die Deutlichkeit des Urteils.
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Herr Müller, hat Sie das Urteil überrascht?

Ja und nein. Ja, weil der EGMR in einigen Punkten über die bisherige Rechtsprechung hinausgegangen ist. Nein, weil viele damit gerechnet hatten. Am meisten überrascht hat mich aber die Einhelligkeit: Die Grosse Kammer des EGMR entschied mit 16 zu 1 Stimmen. Das ist schon bemerkenswert.

Ist das Urteil ein Meilenstein im Kampf gegen den Klimawandel, oder hat es lediglich symbolische Bedeutung?

Die Strahlkraft des Urteils ist erheblich, gerade weil der Entscheid so deutlich fiel. Die Schweizer Regierung muss hier auch den Kopf für eine Botschaft hinhalten, die an alle europäischen Staaten geht. Das Urteil wird in ganz Europa wahrgenommen werden, vor allem mit Blick auf weitere Fälle. Insbesondere Gerichte und Höchstgerichte werden sich mit dem Urteil intensiv auseinandersetzen. Es ist mehr als bloss symbolisch. Aber nicht in dem Sinne, dass die Schweiz nun ihre Klimagesetzgebung von heute auf morgen auf den Kopf stellen muss.

Was muss die Schweiz denn nun konkret tun?

Der EGMR stellt fest, dass die Schweiz zu wenig gegen den Klimawandel tut. Aber er sagt nicht, was die Schweiz nun genau tun muss. Im Urteil ist explizit festgehalten, dass dies nicht Aufgabe des Gerichts ist.

Der EGMR kritisiert doch aber, dass die Schweiz nicht festgelegt hat, welches CO₂-Restbudget ihr noch zusteht, wenn die Erderwärmung auf 1,5 Grad beschränkt werden soll.

Der EGMR hält fest, dass ein Land konkrete und zeitlich bestimmte Massnahmen ergreifen muss, um den Klimawandel zu bekämpfen, weil es sonst die Menschenrechte seiner Bevölkerung verletzt. Mit welchen Massnahmen genau, muss aber im politischen Prozess geklärt werden. Das steht sogar im Urteil.

Rechnen Sie damit, dass Massnahmen ergriffen werden?

Der Druck auf Regierungen und Parlamente in ganz Europa, womöglich auch darüber hinaus, wird deutlich zunehmen. Die entsprechenden Massnahmen brauchen aber eine bestimmte Vorlaufzeit. Ich rechne damit, dass in den nächsten drei bis fünf Jahren Massnahmen ergriffen werden, die sich auch auf das Urteil zurückführen lassen.

Wer muss jetzt handeln?

Das Ministerkomitee des Europarats hat die Aufgabe, die Umsetzung von EGMR-Urteilen zu überwachen. Der Bundesrat wird dem Komitee berichten müssen, was die Schweiz unternommen hat. Das erhöht den politischen Druck.

Und wenn die politische Schweiz nichts tut oder das Volk an der Urne – wie beim CO₂-Gesetz – Massnahmen ablehnt?

Mit dem Urteil steht nun fest, dass die Schweiz, bleibt sie untätig, die Menschenrechte verletzen würde.

Was bedeutet das Urteil für das Bundesgericht? Es hatte in Abrede gestellt, dass die Klimaseniorinnen vom Klimawandel besonders betroffen sind.

Dass die Schweizer Gerichte sich nicht mit dem Anliegen der Klimaseniorinnen inhaltlich auseinandergesetzt haben, verletzt dem EGMR zufolge das Recht auf ein faires Verfahren. Dieser Entscheid fiel sogar einstimmig. Das Bundesgericht wird sich damit auseinandersetzen müssen, es orientiert sich bei der Auslegung der Menschenrechtskonvention am EGMR und respektiert dessen Urteile.

Wird es eine Klageflut geben, wenn jede und jeder persönliche Betroffenheit geltend machen kann?

Nein, damit rechne ich nicht. Der EGMR hat auch viele Vorbehalte formuliert und mehrfach in seinem Urteil betont, dass es – ebenso wie in der Schweiz – kein Recht auf eine Popularklage gibt. Der EGMR selbst hat ja nur die Klage des Vereins der Klimaseniorinnen für zulässig erklärt, nicht aber jene der einzelnen Beschwerdeführerinnen. Es wird aber so sein, dass sich künftige Kläger beim Vorgehen an diesem Urteil orientieren und die Gerichte dazu animieren werden, die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen den Klimawandel zu erweitern.

Kritiker sagen, es handle sich um ein politisch motiviertes Urteil.

Das Urteil ist sicher nicht politisch motiviert. Die Grosse Kammer des EGMR ist aus Richterinnen und Richtern aller politischen Lager zusammengesetzt. Sie stützt sich auf die Menschenrechte und argumentiert juristisch. Was aber stimmt: Es ist ein Urteil in einem politisch hochsensiblen Umfeld, und Strassburg hat in diesem Fall die Grenze zwischen Recht und Politik ein Stück weit verschoben und beruft sich dabei auf die existenzielle Gefahr, die vom Klimawandel für die jetzigen und künftigen Generationen ausgeht. Der EGMR ist zur Überzeugung gelangt, dass der Klimawandel für die Welt eine so grosse Herausforderung darstellt, dass bei diesem Thema auch Gerichte eine Verantwortung tragen, der sie sich nicht entziehen können. Ich bin gespannt, wie das Bundesgericht damit umgeht.