Menschenrechts-Rüge für die Schweiz«Historisch», «Ohrfeige», «Skandal»: So fallen die Reaktionen auf das Klima-Urteil aus
Das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte zur Klage der Seniorinnen lässt Linke und Klimaaktivistinnen jubeln. Die Bürgerlichen sind empört, die SVP will aus dem Europarat austreten.
In der Schweizer Politik wird die Verurteilung der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sehr unterschiedlich aufgenommen. Die Grünen haben für ihren Kommentar zum Urteil am Dienstagnachmittag eigens eine Medienkonferenz einberufen.
Das Recht auf eine gesunde Umwelt sei gemäss dem Urteil ein Grundrecht, sagte Parteipräsidentin Lisa Mazzone. Es sei das erste derartige Urteil für ein Land. Es setze ein klares und verbindliches Ziel, lasse aber die Mittel offen, um dieses zu erreichen.
Was im Klimaschutzgesetz steht, das vergangenes Jahr an der Urne angenommen wurde, reiche nicht, sagte Fraktionschefin Aline Trede an der Medienkonferenz. Für die Landwirtschaft, die Finanzbranche und den Luftverkehr gebe es keine Emissionsziele. Ebenso wenig habe die Schweiz das von den Grünen bereits früher geforderte Kohlenstoff-Budget.
Die Grünen wollen ihre Forderungen mit Vorstössen aufgreifen und in der Sommersession des eidgenössischen Parlaments eine Sondersession beantragen. Ausserdem verlangen sie bis in sechs Monaten einen Plan vom Bundesrat zur Umsetzung des Urteils aus Strassburg.
Bundespräsidentin Amherd von Urteil überrascht
Bundespräsidentin Viola Amherd hat sich überrascht gezeigt. Dem Land seien nämlich Nachhaltigkeit, Biodiversität und das Nettonullziel «sehr wichtig», sagte Amherd in Wien.
Die Begründung des Urteils zu einer Klage einer Gruppe von Schweizer Seniorinnen wegen zu wenig Klimaschutz interessiere sie, sagte Amherd bei einer Pressekonferenz mit dem österreichischen Bundespräsidenten Van der Bellen anlässlich ihres Besuchs in Österreich. Sie sei daher gespannt, die Details des Urteils zu lesen, und werde danach eine Stellungnahme abgeben.
Schweizer Vertreter: Müssen Massnahmen treffen
Laut Alain Chablais, dem Vertreter des Bundes vor dem EGMR, muss die Schweiz nach dem Klimaurteil der Strassburger Richter handeln. «Es liegt nun an den Behörden, die Situation zu analysieren und Wege zu skizzieren.»
Es sei ein wichtiges, sorgfältig detailliertes Urteil, das die Schweiz verpflichte, Massnahmen zu ergreifen, sagte Chablais am Dienstag auf Anfrage. Nach dem Präzedenzurteil werde nun die Debatte darüber beginnen, was zu tun sei.
Chablais gehört dem Bundesamt für Justiz (BJ) an und vertritt die Schweizer Regierung am Strassburger Gerichtshof. Inhaltlich kommentierte er das Urteil nicht weiter, gab aber zu bedenken, dass die Schweiz verpflichtet sein werde, das Urteil zu respektieren. Der Bundesrat nehme das Urteil «selbstverständlich zur Kenntnis». Dieses habe sogar eine «historische Bedeutung».
Die Angelegenheit wird nun politisch: Der Ministerrat des Europarats werde die Massnahmen überwachen, die die Schweiz ergreifen werde, um ihre Versäumnisse zu beheben, sagte Chablais. Es stehe eine breite Debatte bevor, unter Einbezug von Bund, Kantonen und weiterer Behörden. Es sei auch mit Vorstössen in den eidgenössischen Räten zu rechnen. Einen Zeitplan aufzustellen, sei derzeit nicht möglich.
SVP will aus Europarat austreten
Die SVP bezeichnet das Urteil in einer Medienmitteilung als Skandal. Beim Gerichtshof herrschten offensichtlich Ideologie und Realitätsverweigerung, heisst es. «Die SVP verurteilt diese Einmischung fremder Richter aufs Schärfste und fordert den Austritt der Schweiz aus dem Europarat.» Die «dreiste Einmischung in die Schweizer Politik» sei für ein souveränes Land inakzeptabel.
SVP-Nationalrat Mike Egger (SG) bezeichnete das EGMR-Urteil zuvor bereits als «lächerlich». Es sei immer gefährlich, wenn Gerichte Politik machten. Die Schweiz mache gute Umweltpolitik und investiere jedes Jahr Milliarden von Franken – mit Erfolg, sagte Egger. «Wir haben uns in vielen Punkten verbessert und den Treibhausgasausstoss pro Kopf und auch den Erdöl- und Stromverbrauch deutlich gesenkt.» Dies bestätigten Zahlen des Bundes.
Das Urteil aus Strassburg berücksichtige jedoch Aspekte wie die «massive Zuwanderung» in den vergangenen zwanzig Jahren nicht, sodass die in der Schweiz ergriffenen Massnahmen unterschätzt würden. Egger sieht aus diesen Gründen «definitiv keinen zusätzlichen Handlungsbedarf» nach der Rüge gegen die Schweiz. Umweltminister Albert Rösti habe bereits eine klare Strategie, wie er Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen angehen wolle.
Umweltminister Rösti: «Schweiz ist gut unterwegs»
Der angesprochene Bundesrat sagt gegenüber Blick.ch, dass die Schweiz entscheidende Schritte für den Klimaschutz unternommen habe. «Die Schweiz ist gut unterwegs», erklärt er. Die Bevölkerung habe dem Klimaschutzgesetz zugestimmt und im neuen CO₂-Gesetz weitere Massnahmen beschlossen.
Jürg Grossen (GLP): Schweiz muss Vorbild sein
Für den Berner GLP-Nationalrat Jürg Grossen ist die Rüge der Strassburger Richter an die Adresse der Schweiz keine Überraschung: «Wir wissen, dass wir nicht genug für das Klima machen.» Es sei aber richtig, dass das nun auch international festgestellt worden sei.
Die Schweiz mit ihren hohen Klimaschulden und gleichzeitig vielen Mitteln in Sachen Technologie und Wissen müsse in Klimafragen ein Vorbild sein, sagte Grossen am Dienstag. «Wir müssen unsere Hausaufgaben selber machen.»
Mattea Meyer (SP): «Ohrfeige für den Bundesrat»
Die SP sieht ihre Forderungen bestätigt. Sie verlangte in einer Mitteilung erneut öffentliche Investitionen für das Gelingen der Energie- und Klimawende, und sie kritisierte den Bundesrat für dessen Untätigkeit. «Dieses Urteil des höchsten europäischen Gerichts ist eine Ohrfeige für den Bundesrat», liess sich Mattea Meyer, Co-Präsidentin der SP Schweiz, zitieren.
Christian Wasserfallen (FDP): «Völlig unverständlich»
Für den Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen ist das Urteil «völlig unverständlich». Das Gericht verstehe die Schweizer Demokratie nicht, sagte er mit Verweis auf das 2021 an der Urne abgelehnte revidierte CO₂-Gesetz.
Den Bundesrat allein für dieses Nein verantwortlich zu machen, sei «ein Witz», sagte Wasserfallen am Dienstag auf Anfrage. Und dank der direktdemokratischen Mittel könnten sich in der Schweiz die Menschen mit ihren Anliegen bemerkbar machen.
Dem Urteil aus Strassburg mag Wasserfallen nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Es sehe relativ politisch motiviert aus, sagte er. Ausserdem habe die Schweiz seit Jahren ein CO₂-Gesetz mit erfolgreichen Klimaschutz-Massnahmen. Die neuste Revision werde hoffentlich bald in Kraft treten.
Nicolò Paganini (Mitte): Rüge betrifft Schweizer Stimmvolk
Auch der St. Galler Mitte-Nationalrat Nicolò Paganini ist der Ansicht, dass die Rüge eigentlich ans Schweizer Stimmvolk geht für das Nein zum von seiner Fraktion unterstützten strengeren CO₂-Gesetz.
«Im Schweizer System können keine Richter Entscheide von Volksabstimmungen umstossen», sagte Paganini. Das sei Teil der politischen Kultur in der Schweiz. Er schlägt vor, dass die Klimaseniorinnen eine Volksinitiative starten könnten mit ihrem Anliegen.
EU-Kommission reagiert zurückhaltend auf Klima-Urteil
Die Kommission der Europäischen Union hat zurückhaltend auf das Urteil reagiert. Die Kommission werde sowohl das Urteil gegen die Schweiz wie auch die zwei abgewiesenen Beschwerden sorgfältig studieren, sagte ein Sprecher der EU-Kommission in Brüssel.
Unabhängig von den juristischen Argumenten würden die Fälle an den hohen Stellenwert erinnern, den die Bürgerinnen und Bürger dem Klimaschutz beimessen würden, sagte der Sprecher weiter. Die EU sei mit ihrem Klimagesetz auf dem Weg, die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen.
Während alle 27 Mitgliedstaaten der EU die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet haben, ratifizierte die EU den Text bis anhin nicht. Allerdings werden in diesem Zusammenhang Gespräche geführt. Diese seien «fortgeschritten», hiess es aus Kommissionskreisen. Wann mit einem Beitritt zu rechnen ist, blieb offen.
WWF: Erfolg für alle Generationen
Laut dem Umweltschutzverband WWF ist der Sieg der Klimaseniorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Erfolg für alle Generationen. Auf X sprach der WWF von einem weitreichenden Präzedenzfall. Und: «Offizieller geht es kaum: Die Schweiz muss endlich handeln.»
Energiestiftung: Historischer Sieg
Die Schweizerische Energiestiftung (SES) bezeichnete das Urteil in einer Mitteilung auf X als historischen Sieg. Für den Verein Klimaschutz bestätigt das Urteil ein schon lange bestehendes Anliegen des Vereins. Die Schweiz mache nach wie vor zu wenig für den Schutz ihrer Bevölkerung vor den Folgen der Klimakrise.
Greta Thunberg: Guter Anfang
Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg hat die Verurteilung der Schweiz begrüsst. Diese «ist erst der Anfang in Sachen Klimastreitfälle», erklärte sie am Dienstag in Strassburg.
«Überall auf der Welt bringen immer mehr Menschen ihre Regierungen vor Gericht, um sie für ihre Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen. Unter keinen Umständen dürfen wir zurückweichen, wir müssen noch mehr kämpfen, denn das ist erst der Anfang», sagte Thunberg nach dem Urteil.
SDA/anf
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