Perfide Methode aus SowjetzeitenMit einer alten Masche lässt Russland Opponenten in Psychiatrien verschwinden
Kremlkritiker werden zunehmend für verrückt erklärt und zwangseingewiesen. Menschenrechtsorganisationen warnen vor einer Rückkehr zur sowjetischen «Strafpsychiatrie».
- In Russland wird Kritik oft mit Gefängnis oder Psychiatrie bestraft.
- Menschenrechtsorganisationen berichten über den zunehmenden Einsatz von Strafpsychiatrie.
- Oppositionelle werden nach Verhaftungen als psychisch krank eingestuft.
- Dies sei eine Methode, um unerwünschte Stimmen mundtot zu machen.
In Russland kann ein falsches Wort vor Gericht führen. Es reicht, einen Ukraine-freundlichen Post auf Instagram zu veröffentlichen. Sich in ausländischen Medien zu äussern. Sogar eine kriegskritische Zeichnung kann die Behörden auf den Plan rufen. Der Kreml droht den Russinnen und Russen in solchen Fällen mit hohen Bussen und Gefängnisstrafen. Aber es gibt auch ein anderes Mittel, kritische Bürger verstummen zu lassen: Man erklärt sie zuerst für psychisch krank. Und lässt sie in einem nächsten Schritt in die Psychiatrie einweisen.
Menschenrechtsorganisationen und unabhängige russische Zeitungen berichten von einer Zunahme dieser Praktik, auch bekannt als «Strafpsychiatrie». Das in Litauen ansässige Andrei-Sacharow-Forschungszentrum für demokratische Entwicklung schreibt, «unsere Beobachtungen zeigen, dass das, was zu Sowjetzeiten als Strafpsychiatrie bekannt war, seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 wieder zu einem wichtigen Instrument zur Unterdrückung von Dissidenten geworden ist».
Unter Strafpsychiatrie versteht man den Missbrauch von psychologischer Diagnostik und Zwangsbehandlungen, um politischen Dissens zu unterdrücken. Wie die renommierte medizinische Fachzeitschrift «The Lancet» in einer Publikation von 2024 beschreibt, handelt es sich dabei um eine gezielte Strategie, soziale Kontrolle auszuüben.
In Russland läuft diese Praxis gemäss der 1989 in der Sowjetunion gegründeten Menschenrechtsorganisation Memorial immer gleich ab: Nach der Verhaftung erklären die Behörden die angeklagte Person nach einer Befragung für psychisch krank. Darauf folgt die Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung – oft auf unbestimmte Zeit. Insbesondere Personen, die sich gegen den russischen Angriffskrieg aussprechen, sind gemäss den Daten von der Strafpsychiatrie betroffen.
Verbreitung von falschen Informationen
Eine, die diesen Prozess durchmachte, ist die russische Menschenrechtsaktivistin Olga Suworowa. Die 56-Jährige unterstützte die Präsidentschaftskampagne der Oppositionspolitikerin Jekaterina Duntsowa, die dieses Jahr als Kandidatin gegen Putin kandidieren wollte. Im Dezember 2023 wurde sie in Krasnojarsk am Flughafen festgenommen. Die Ermittler warfen ihr vor, wissentlich falsche Informationen verbreitet zu haben.
Nach ihrer Verhaftung ordneten die Ermittler eine psychiatrische Untersuchung an, wie die Journalistin Kristina Safonowa von der unabhängigen russischen Medienkooperative Bereg berichtete. Das Gespräch dauerte lediglich 30 Minuten. Die Psychiaterin attestierte Suworowa eine «Fixierung auf ihren Wunsch, anderen zu helfen» und Anzeichen einer «gemischten Persönlichkeitsstörung». Ihre Empfehlung: eine stationäre Einweisung. Mitte Mai 2024 wurde Suworowa in eine geschlossene Klinik gebracht. 22 Tage verbrachte sie dort.
Die Bedingungen seien sehr schlecht gewesen, erzählte Suworowa gegenüber Bereg. Das Brot, das sie erhalten hätten, sei meistens «verfault und verschimmelt» gewesen. Ausserdem wurden ihr täglich «mysteriöse Pillen» verabreicht. Es gelang ihr, diese unbemerkt zu entsorgen. «Ich versteckte die Tabletten und warf sie dann in die Toilette.»
Am 6. Juni wurde sie aus der Einrichtung entlassen. Suworowa ist sich sicher, dass die Einweisung politisch motiviert war. «Die Hauptaufgabe bestand darin, mich in eine psychiatrische Klinik zu stecken, damit ich gefügiger werde.» Vor dem psychiatrischen Gutachten hätten die Ermittler ihr mehrmals gesagt: «Wenn Sie sich schuldig bekennen, ist alles vorbei.»
Verabreichung von unbekannten Substanzen
Auch Viktoria Petrowa wurde zur Zielscheibe der Strafpsychiatrie. Sie hatte sich auf Social Media öffentlich gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ausgesprochen. Im Mai 2023 wurde sie unter dem Vorwurf der Verbreitung «falscher Informationen» über das Militär verhaftet.
Das Gericht ordnete während der Untersuchungshaft ein psychiatrisches Gutachten über Petrowa an. In diesem wurde gemäss Radio Free Europe festgehalten, dass sie «ihre Handlungen weder verstehen noch kontrollieren konnte oder kann». Im Oktober 2023 wurde sie ins psychiatrische Krankenhaus Skwortsow-Stepanow in Sankt Petersburg eingewiesen. Zuvor hatte sich die Russin noch nie in psychiatrischer Behandlung befunden.
Ihre Anwältin Anastasia Pilipenko berichtet auf Telegram von zahlreichen Demütigungen. Unter anderem zwang man sie dazu, sich für eine «körperliche Untersuchung» vor männlichem medizinischem Personal auszuziehen – obwohl genug Frauen anwesend waren. Ausserdem wurden ihr Menstruationsprodukte verwehrt. «Das Blut lief ihr an den Beinen herunter, und alle machten sich über sie lustig», sagte Pilipenko gegenüber Radio Free Europe.
Zudem wurden ihr laut Pilipenko unter Zwang unbekannte Substanzen verabreicht: «Man fesselte ihre Arme und Beine ans Bett und spritzte ihr Medikamente.» Während zweier Tage war sie nahezu handlungsunfähig. Petrowa konnte nicht sprechen und sich daher auch nicht gegen die Behandlung wehren.
Erst im August 2024 wurde sie entlassen. Die Behörden sprachen laut Pilipenko von einer «signifikanten Verbesserung ihres psychischen Zustands»: Sie habe ein Bewusstsein für die Erkrankung und das begangene Rechtsvergehen entwickelt. Ihre Anwältin kritisierte, die Einweisung sei ein Mittel gewesen, um sie mundtot zu machen.
Andere Opfer von Strafpsychiatrie bestätigen ähnliche Erfahrungen: schlechte Versorgung, Demütigungen und die zwangsweise Verabreichung starker Medikamente. Besonders belastend sei die Ungewissheit über die Haftdauer, sagte der russische Anwalt Alexei Pryanischnikow gegenüber Bereg. Er vertritt zwei politische Gefangene, die sich ebenfalls in der Psychiatrie befinden. «Im Gefängnis gibt es einen Countdown bis zur Entlassung», so Pryanischnikow, «aber in der Zwangspsychiatrie weiss man nie, wann man freikommt.»
Ein systematisches Problem
Fälle von Strafpsychiatrie wurden in ganz Russland dokumentiert, am häufigsten jedoch in Moskau: Laut dem Sacharow-Zentrum entfallen 25 Prozent der Fälle auf die Hauptstadtregion. Auch in Sankt Petersburg, in der Region Rostow in der Nähe der südlichen Grenze zur Ukraine, auf der besetzten Halbinsel Krim und in Swerdlowsk im Uralgebiet wurden Vorfälle gemeldet.
Bereits vor dem russischen Angriffskrieg gab es vereinzelt Fälle, in denen politische Gefangene in psychiatrischen Kliniken untergebracht wurden. Seit Beginn der Vollinvasion habe sich die Zahl der Fälle aber verfünffacht, berichtete das russische Investigativportal Agentstvo bereits im Mai. Seit Februar 2022 haben demnach russische Richter in mindestens 86 Fällen eine Zwangsbehandlung angeordnet.
Beginn in der Sowjetunion
Die Strafpsychiatrie hat in Russland eine lange Geschichte. In der Sowjetunion war sie eines der Hauptinstrumente zur Unterdrückung von Regimekritikern. In den 1970er- und 1980er-Jahren war schätzungsweise rund ein Drittel der politischen Gefangenen ohne medizinische Grundlage in psychiatrischen Kliniken zwangsweise untergebracht. Psychische und körperliche Misshandlungen waren an der Tagesordnung.
Bereits 1977 verurteilte der Weltverband für Psychiatrie (WPA) die sowjetische Praxis der Strafpsychiatrie, während Russland die Vorwürfe abstritt. Erst 1989, im Zuge von Glasnost und Perestroika, gestattete die sowjetische Regierung eine Untersuchung durch eine US-Delegation. Damit wurde das ganze Ausmass der russischen Strafpsychiatrie im Westen erst bekannt.
Laut Robert van Voren, Professor für sowjetische und postsowjetische Studien an der Vytautas-Magnus-Universität in Litauen, basierte das System auf der Vorstellung, dass alle Personen, die sich gegen das sowjetische Regime stellten, «geisteskrank» waren. Seit den 1980er-Jahren forscht er zur Strafpsychiatrie. «Es gab keine andere logische Erklärung dafür, warum man sich gegen das beste soziopolitische System der Welt stellen sollte», schreibt Van Voren in einer Publikation. Viele Psychiater und Psychiaterinnen seien damals überzeugt gewesen, die politischen Gefangenen hätten tatsächlich eine psychische Erkrankung.
Ausmass der Repression
Politische Gegner und Gegnerinnen als mental unzurechnungsfähig erklären zu lassen, spreche ihnen in der Öffentlichkeit ihre Glaubwürdigkeit ab. Dadurch müssten die Herrschenden nicht auf deren Überzeugungen eingehen, da sie das Produkt eines «kranken Geistes» seien und anscheinend nicht ernst genommen werden müssten, schreibt Van Voren. «Ein solcher Ausweg ist für die Behörden besonders willkommen, da man die Behauptung aufrechterhalten kann, es gebe keine Opposition.» Eine Auslegung, die dem heutigen Regime in Moskau offenbar gelegen kommt.
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