Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Thierry Carrel zur Spitalkrise
«Den Kispi-Neubau an zwei Stararchitekten zu vergeben, war unverantwortlich»

Thierry Albert Pierre Carrel-Dahinden, Star Herzchirurg und Universitaetsprofessor. Fotografiert bei Tamedia Inhouse.

08.03.2023
(SILAS ZINDEL/TAGES-ANZEIGER)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

35 Jahre war der Herzchirurg Thierry Carrel in Schweizer Spitälern tätig. Heute ist er vor allem humanitär im Einsatz und operiert alle zwei, drei Monate in Usbekistan und künftig auch in Georgien und Südamerika. Die Hilferufe der Spitäler in Millionenhöhe besorgen ihn sehr. Diese Woche hiess es, das Zürcher Kispi müsse mit einer 100-Millionen-Franken-Spritze gerettet werden.

«Dass das Kispi einen Neubau braucht, um den künftigen Anforderungen gewachsen zu sein, steht ausser Frage», sagt Carrel. Er hatte dort selber in den 90er-Jahren immer wieder operiert und weiss um die engen Platzverhältnisse und die veraltete Infrastruktur. «Doch den Auftrag für den Neubau an zwei Stararchitekten zu vergeben, die damit ein Denkmal setzen, war ein unverantwortlicher Entscheid der Leitungsgremien.»

Tatsächlich sollte der Neubau, entworfen von den Basler Architekten Herzog & de Meuron, zu Beginn 600 Millionen Franken kosten. Inzwischen sind es 761 Millionen. Carrel ist überzeugt: Die Fassade eines Spitals ist für die darin arbeitenden Mediziner und Pflegende wie auch die Patienten völlig sekundär. Mit den zunehmenden ambulanten Behandlungen würden die Patienten ohnehin viel weniger Zeit im Spital verbringen.

Viel wichtiger seien die medizinische und pflegerische Leistung. «Und die kann man auch mit viel weniger Luxus rundherum erbringen, das erlebe ich tagtäglich in Regionen, denen es wirtschaftlich deutlich schlechter geht als der Schweiz», sagt der Herzchirurg.

Visualisierung neues Kispi

Auch stört Carrel, dass die Rettungspakete der Kantone nach dem Prinzip der Systemrelevanz verteilt werden. «Was heisst schon systemrelevant?», fragt Carrel. Er sei diese Woche bei einem langjährigen Freund und Hausarzt im Berner Oberland gewesen. Dieser betreut mit seiner Praxis eine ganze Talschaft. «In diesem Sinne ist sie auch systemrelevant. Doch würde sie gerettet werden?» Anders als die Spitäler habe dieser Hausarzt immer nur so viel investiert, wie er habe verantworten können. «Er wird also gar nicht in diese missliche Lage kommen.»

Bis jetzt fand der Herzchirurg gut, dass die Kantone, die auch nah am Geschehen sind, für die Spitäler zuständig sind. Doch mittlerweile steht für ihn fest, der Blick auf das Ganze ist verloren gegangen. Jeder Kanton, sogar jede Region schaue häufig nur für sich.

«Wenn es so weitergeht, haben wir für 10 Millionen Menschen bald 10 Unispitäler», sagt Carrel. Das könne nicht sein. Länder wie beispielsweise Dänemark oder auch Holland würden vormachen, wie es gehe. «Aber unser Gesundheitssystem war in den letzten Jahren nur von Blockaden geprägt. Mit fatalen Folgen», sagt Carrel. 

Nur eine Handvoll Spitäler erzielt Gewinne

Kaum einer kennt die Finanzen der Spitäler so gut wie Philip Sommer, Leiter Gesundheitswesen bei PWC Schweiz. «Die Situation ist ziemlich dramatisch», sagt er. Zahlreiche Spitäler würden keine Gewinne mehr erzielen. «Selbst die wenigen wirtschaftlich erfolgreichen Spitäler sind oder kommen nun in Schwierigkeiten.»

Massgebend für die Wirtschaftlichkeit der Spitäler ist die Ebitdar-Marge, also der Gewinn vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen, Amortisationen und Miete. 10 Prozent sollte diese betragen, damit ein Spital langfristig in der Lage ist, die notwendigen Investitionen in Immobilien und Digitalisierung zu tätigen. Doch bereits 2022 betrug sie im Median gerade noch 6 Prozent.

Sommer geht davon aus, dass in den Jahresabschlüssen für 2023 nur noch eine Handvoll Spitäler die 10 Prozent erreichen wird. «Machen wir so weiter, dann retten wir künftig Spitäler, so wie wir heute Bail-outs für Banken machen.» Schiessen die Steuerzahler das Geld nicht ein, wird es ein «Spitalsterben» geben, ist Sommer überzeugt.

Wie konnte es so weit kommen? «Der Druck ist zu gross geworden», sagt Sommer. Die Inflation habe dazu geführt, dass die Kosten etwa fürs Personal, den laufenden Betrieb und Investitionen kumuliert im Bereich von 5 Prozent gestiegen seien – die Tarife hingegen nicht im gleichen Ausmass angehoben worden seien. Für Sommer ist klar: Die stationären und vor allem auch die ambulanten Tarife müssen erhöht werden.

Eigentlich wäre es medizinisch sinnvoll für die Spitäler, mehr Leistungen ambulant zu machen. «Doch das ist für sie ein Verlustgeschäft. Also machen sie es nicht im grossen Stil.» Dabei wäre der Hebel gross. Der Ökonom ist überzeugt, dass sich dadurch jährlich fast eine Milliarde der rund 30 Milliarden Franken Spitalkosten sparen liesse. 

Nur halb so viele Spitäler nötig

PWC Schweiz warnte bereits letzten September, dass das heutige System zu kollabieren drohe. Die ersten Geschäftsabschlüsse für 2023 bestätigen nun die Prognosen. Die St. Galler Spitäler verkündeten einen Verlust von knapp 100 Millionen Franken, das Berner Inselspital gar von 113 Millionen. Die Krise erreicht nun die Kantons- und Zentrumsspitäler, die ganze Grossregionen versorgen.

«Manche dieser Spitäler sind systemrelevant, sie dürfen aufgrund der medizinischen Versorgungssicherheit nicht zugehen», sagt Sommer. Dennoch ist er überzeugt: «Die Schweiz hat viel zu viele Spitäler.» Zurzeit gibt es über 100 Standorte. PWC hat in einer Studie 2018 berechnet, dass die Schweiz ab rund 50 Spitälern eine gute Grundversorgung sicherstellen kann. «Vielleicht sind es künftig 60 oder auch 80 Spitäler, aber es braucht nicht über 100.»

Bereits damals sagten die Berater, die aktuelle Spitalstruktur sei zu starr. «Das ist nun das Gute an der Krise: Die Bereitschaft, endlich etwas zu ändern, ist grösser geworden», sagt Sommer. Und die Kantone könnten nun auch überzeugende Restrukturierungskonzepte einfordern, wenn sie die Spitäler schon mit Steuergeldern unterstützten.

Lösungsansätze gibt es. Doch die Rettung wird laut Sommer teuer: Er geht von über einer Milliarde Franken jährlich aus, die es braucht, damit die Spitäler weiter funktionieren.

philip sommer