Interview mit Geheimdienstexperten«Die Schweiz schützt jene, die morden»
Kaum jemand hat so viele russische Agenten auffliegen lassen wie Christo Grozev. Der Reporter kritisiert die Behörden für ihre passive Haltung bei Spionage.
Der investigative Journalist Christo Grozev hat viele russische Spione auffliegen lassen – auch solche, die in der Schweiz operierten. Der Bulgare beschäftigt sich mit verdeckten Geheimdienstoperationen – zuerst beim Recherchenetzwerk Bellingcat und aktuell bei der Plattform «The Insider» und beim «Spiegel». Einem breiteren Publikum wurde er bekannt durch den Oscar-prämierten Dokumentarfilm «Nawalny». Dort überführte er zusammen mit dem russischen Oppositionsführer Alexei Nawalny jene Agenten aus Russland, die Nawalny vergiftet hatten.
Herr Grozev, wie sind Sie auf die Schweizer Spuren des russischen Militärgeheimdiensts GRU gestossen?
Die britische Polizei rief 2018 zur Mithilfe auf bei der Identifizierung zweier Verdächtiger beim Giftanschlag auf Ex-GRU-Agent Sergei Skripal in Salisbury. Bei Bellingcat machten wir uns sogleich an die Arbeit. Wir hatten uns das sportliche Ziel gesetzt, besser zu sein als die Polizei und die Nachrichtendienste. Wir waren etwas überrascht, wie viele Spuren russische Agenten im Internet hinterliessen. Hinzu kam, dass bei den Tarnnamen die Vornamen belassen und nur die Nachnamen verändert wurden. Deshalb war die Identifizierung gar nicht so schwierig. Bei der Rekonstruktion von Reisen stellten wir fest, wie oft die GRU-Offiziere in der Schweiz gewesen waren, insbesondere vor dem Skripal-Attentat.
Was wollten sie hier?
Mit ziemlicher Sicherheit können wir sagen, dass es im Grenzgebiet zu Frankreich auf der Schweizer Seite eine Logistikbasis gibt, in der sie sich versammelten. Sie begaben sich auch in Skigebiete und in die Nähe der russischen Vertretung in Genf.
Was taten Sie dort?
Ganz genau wissen wir das nicht. Auffällig war, dass in Genf ein russischer Handelsdiplomat arbeitete, der über eine ähnliche Passnummer verfügte wie die GRU-Leute. Er war an der Vergiftung eines bulgarischen Waffenherstellers beteiligt gewesen. Anschliessend wurde er als Diplomat in die Schweiz entsandt. Er gehörte derselben GRU-Einheit an wie die Skripal-Attentäter. Als wir solche Erkenntnisse zusammen mit dem Tamedia-Recherchedesk publizierten, packte er unverzüglich seine Sachen und nahm einen Flug nach Moskau. Den Rückflug in die Schweiz liess er verfallen.
Die Schweiz ist sehr zurückhaltend bei der Ausweisung von Agenten unter Diplomatenschutz. Können Sie diese Praxis nachvollziehen?
Nein. Sie ist ein Hauptgrund dafür, weshalb die aggressive GRU-Einheit die Schweiz als Logistikbasis wählte, und vielleicht auch dafür, dass auch jüngst wieder ein solcher Agent gefährliche Güter im Land beschaffte. Die Schweizer Passivität ist bedauerlich. Sogar Österreich, das sich lange ähnlich verhalten hatte, hat mittlerweile begonnen, russische Spione auszuweisen. Ich hoffe wirklich, dass auch die Schweiz handelt. Sie verhält sich unfair gegenüber dem Rest der Welt.
Die Behörden machen geltend, als UNO-Gaststaat müsse sich die Schweiz neutral verhalten.
Die Neutralität ist eine tolle Sache. Aber die Schweiz sollte alle Länder so behandeln wie jene Staaten, die keine solch aggressiven Spione entsenden. Dass diese Agenten gleich behandelt werden wie echte Diplomaten, ist auch ein Affront gegenüber den Diplomaten. Töten ist bekanntlich keine diplomatische Tätigkeit, die geschützt werden muss. Die Schweiz schützt letztlich jene, die morden.
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