Das Jahrhundert der PsychologieSigmund Freud, der gottlose Prediger
Er täuschte sich oft und beeinflusst uns trotzdem bis heute. Um den Widerspruch aufzulösen, muss man Freuds patriarchalen Charakter verstehen. Ein Buch und ein neuer Film helfen.
- Sigmund Freuds patriarchaler Charakter schadete der Psychoanalyse als Wissenschaft, weil er Einwände als feindlichen Akt wertete und mit allen Gegnern brach.
- Sein Dogmatismus hat der Psychoanalyse aber auch geholfen, sich zu emanzipieren.
- Das neue Buch «Seelenzauber» von Wissenschaftsjournalist Steve Ayan über die Entwicklung der Psychoanalyse thematisiert diesen Widerspruch meisterhaft.
- Auch im Film «Freud’s Last Session» von Matt Brown wird die facettenreiche Persönlichkeit von Sigmund Freud eindrücklich dargestellt.
Die Männer im Wartezimmer wissen nicht, dass sie an einer Revolution teilnehmen werden. Die meisten sind Ärzte, alle sind Juden. Draussen friert die Stadt, es ist Winter 1902 in Wien, Nebelregen über der Berggasse 19. Gastgeber ist der Nervenarzt Sigmund Freud. Er ist ein stattlicher Mann Mitte vierzig, trägt Bart und Anzug. Er redet mit angenehmer Stimme und kann zuhören. Er hat Humor, Bildung und spricht mehrere Sprachen. Sein dunkler Blick zeugt von stechender Intelligenz. Er ist grosszügig, nachtragend und autoritär. Auf Kritik reagiert er empfindlich. Mit seiner «Traumdeutung», vor zwei Jahren erschienen, begann er das neue Jahrhundert psychologisch zu vermessen.
Die Gruppe einigt sich auf ein erstes Diskussionsthema, von dem alle gleich viel verstehen und das so dicht im Raum schwebt wie der Nebel in den Strassen; man einigt sich auf die Psychoanalyse des Rauchens. Freud kennt sich damit aus. Bis zu 20 Zigarren rauche er täglich, sagt er der Gruppe; sie bewirkten bei ihm eine Art «milde Narkose», unter welcher er am besten schreiben könne. Das Kokain hat er aufgegeben.
Sigmund Freud hat das letzte Wort
Aus diesem ersten Abend heraus wird das Mittwochstreffen ritualisiert. Zuerst soll jemand aus der Runde einen psychoanalytischen Vortrag halten, dann werden Kaffee und Gebäck gereicht und wird das Thema durchgedeutet. Das Personal wechselt, Freud bleibt, leitet die Versammlung und hat das letzte Wort. Seine Autorität als Leiter der psychoanalytischen Bewegung wird ebenso wenig hinterfragt wie seine Überzeugung, wonach alles seelische Leiden einen sexuellen Ursprung hat.
Mit dem vollgerauchten Zimmer an der Berggasse beginnt der deutsche Wissenschaftsjournalist Steve Ayan sein neues Buch über «das Jahrhundert der Psychologie», wie er es mit Recht untertitelt hat. Ayan sieht das 20. Jahrhundert vom 21. aus. Sein Buch bringt uns die Vergangenheit und ihre Figuren wieder nahe. Ayan kann glänzend schreiben. Virtuos kombiniert er Anekdote mit Analyse, Charaktere und ihre Theorie, folgt den Verästelungen der psychoanalytischen Entwicklungen, skizziert die Persönlichkeit seiner Figuren. Er schreibt gleichermassen kritisch wie verständnisvoll. Und porträtiert dabei nicht nur Freud, sondern auch jene Schüler, die sich mit ihm überwarfen: den zum Spirituellen neigenden Basler Pfarrerssohn C. G. Jung zum Beispiel, den Sozialisten Alfred Adler oder den vom Orgasmus besessenen Wilhelm Reich.
Freud brach mit den Besten
Steve Ayan macht deutlich, wie sehr Freuds patriarchaler Charakter der Psychoanalyse als Wissenschaft schadete, weil er Einwände als feindlichen Akt wertete und mit allen Gegnern brach, obwohl viele von ihnen die Besten waren. Denn es war so mit dem Alten: Wer sich ihm und seinen Dogmen unterwarf, wurde gefördert und weiterempfohlen, er durfte Patientinnen und Patienten zur Behandlung übernehmen. Wer widersprach oder Freuds Ansichten ablehnte, wurde exkommuniziert.
Der «gottlose Jude», wie Freud sich selber gerne nannte, konnte zwar aus der Bibel, der Thora und dem Koran auswendig zitieren. Dennoch hielt er die Religion für eine kindliche Projektion, eine Vatersuche ohne väterlichen Gott, einen vergeblichen Trost über das Elend des Lebens. Dabei trat er selber zunehmend auf wie ein Religionsgründer, der keine anderen Götter und keinen anderen Glauben duldet. «Der Mann Moses und die monotheistische Religion» hatte er seine späte Schrift genannt, er hätte gerade so gut vom Mann Freud reden können.
Und jetzt kommt das Paradoxe: Ausgerechnet mit seinem Dogmatismus hat Sigmund Freud der Psychoanalyse auch geholfen, bloss nicht seiner eigenen. Denn es wurde umso kreativer für die Jüngeren, sich vom Alten zu emanzipieren. Bei einem Jung war das nicht möglich. Seine Terminologie war so opak und spirituell verfilzt, dass man aus ihr heraus keine Weiterentwicklungen formulieren konnte.
Und was bleibt von Freud selber? Manches, was er in seinem immensen Gesamtwerk und in Tausenden von Briefen niederschrieb, gilt als falsch oder unvollständig: der Ödipuskomplex, der Todestrieb, der Penisneid, das psychische Energiemodell, die Unterteilung von Es, Ich und Über-Ich über das Metaphorische hinaus. Freuds Bestehen auf dem sexuellen Urgrund psychischen Leidens mag für das sexualfeindlich-misogyne katholische Wien gegolten haben, lässt sich in dieser Radikalität aber nicht herleiten. Und obwohl Sigmund Freud viele Frauen analysierte, verstand er nichts von der weiblichen Sexualität. Auch hier blieb er der Patriarch, der die Frau geringer achtete als den Mann.
Eingesickertes Wissen
Und doch hat nur halb recht, wer Sigmund Freud auf diese Weise entsorgen möchte. Denn wir ignorieren deshalb so viel von ihm, nicht weil es überholt wäre, sondern weil es so tief in unser Wissen über den Menschen eingesickert ist.
Niemand bezweifelt, dass es eine kindliche Sexualität gibt; dass das erste Lebensjahr eines Kindes entscheidend ist für das psychische Überleben; dass man mit den Patienten reden muss, statt über sie zu befinden; dass es ein Unbewusstes gibt, das uns lenkt; dass unser angeblich rationales Denken als Chaos von Fantasien, Erinnerungen und Bildern in unserem Schädel tobt; dass psychische Phänomene wie Verdrängung, Projektion oder Widerstand unsere Beziehungen prägen; und dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Unterwerfung unter den Mächtigen und der Unterwerfung der Machtlosen.
Dass Sigmund Freuds Vokabular so gegenwärtig bleibt, obwohl seine Theorien überholt sind, hat mit einem anderen seiner Talente zu tun: dem schreiberischen. Seine Krankheitsgeschichten seien wie Novellen zu lesen, erkannte Freud in einem Brief an Stefan Zweig, und obwohl er sich als gänzlich unmusikalischen Menschen beschrieb, liebte er Literatur, Bildhauerei und Malerei und verwendete sie in seinen Büchern als Anschauungsmaterial.
Wer sich psychologische Bücher anderer Autoren antut, wird Freud erst recht als überragenden Stilisten der deutschen Sprache wahrnehmen. Anders als seine Kollegen bleibt seine Terminologie einfach und verständlich. Wenn wir bis heute von Abwehr, Widerstand, Fehlleistung, Verschiebung, Krankheitsgewinn oder Übertragung reden, dann nicht nur, weil sich solche Verhaltensmuster nachweisen lassen. Sondern, weil wir diese sofort verstehen. Kein Zufall, dass die einzige Auszeichnung, die Freud zu Lebzeiten verliehen wurde, der Goethepreis der Stadt Frankfurt war. Ein Jahr später kam Hitler an die Macht.
Das antisemitische Wien
Dass Doktor Freud nicht schon Anfang des 20. Jahrhunderts zum Professor ordiniert wurde, hängt mit der Sexualmoral des kaiserlichen Wiens zusammen, aber noch weit mehr mit dem Antisemitismus. Als Bürgermeister von Wien agiert Karl Lueger, ein bekennender Judenhasser und das grösste Vorbild von Adolf Hitler. Erst als Freuds jüngste Tochter Anna 1938 von der Gestapo verhört wurde, flüchtet die Familie.
Im September 1939 treffen wir in London wieder auf Sigmund Freud. Drei Wochen vor seinem Tod und nach 32 Operationen wegen seines Gaumenkrebses. Dabei raucht er immer noch. Soeben hat Hitler Polen überfallen lassen und kündet am Radio die Vernichtung aller Juden in Europa an. Freud stellt das Radio ab. Er wartet auf einen Gast: den Schriftsteller und Oxford-Akademiker C. S. Lewis. Dieser ist zum Christentum konvertiert und hat eine Satire auf die Ungläubigen geschrieben. «Warum wollen Sie jetzt ausgerechnet mit mir diskutieren?», fragt ihn Freud, als Lewis an diesem regnerischen Tag mit grosser Verspätung eingetroffen ist. Der Bekehrte will wissen, was Freud in seinem Unglauben hält. Zwei Stunden lang diskutieren die beiden miteinander, beide respektieren den anderen und fordern ihn heraus. Freud ist schlagfertiger, Lewis aufrichtiger.
Der neue Film «Freud’s Last Session» von Matt Brown, in Europa zu Unrecht übersehen, imaginiert diese Begegnung. Von ihr wissen wir nur, dass Freud drei Wochen vor seinem assistierten Tod einen jungen Akademiker auf dessen Wunsch zum Gespräch bat. Ob es tatsächlich C. S. Lewis war, bleibt offen. Der Film mit einem überragenden Anthony Hopkins als Freud lässt es uns wünschen, mit dem schauspielerisch ebenso ebenbürtigen Matthew Goode als Lewis. Zwei uneinige Intellektuelle treten einander in diesem Kammerspiel gleichwertig gegenüber. «Mit jedem Fehler nähern wir uns der Wahrheit», sagt Sigmund Freud zuletzt.
Steve Ayan: Seelenzauber. Das Jahrhundert der Psychologie. DTV-Verlag, München 2024. 397 S., Fr. 30.40.
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