Lesende fragen Peter SchneiderTaugt Freuds Psychoanalyse heute noch?
Unser Kolumnist beantwortet die, nun ja, Mutter aller Fragen.
Ist Freuds Psychoanalyse noch zeitgemäss? J. S.
Lieber Herr S.
Das kommt darauf an, was Sie unter «zeitgemäss» verstehen. Wenn Sie mit dem Wort meinen, so zeitgemäss wie die letzte Auflage eines Lehrbuchs der Psychologie oder Soziologie, dann nein. (Lehrbücher haben eine niedrige Halbwertszeit, nach zwei Auflagen sind sie spätestens veraltet.) Wenn Sie damit meinen, so zeitgemäss wie die Schriften Kants, Arendts, Wittgensteins oder Beauvoirs, dann ja.
Sie (inklusive Freud) sind von historischem Interesse. «Historisch» sollten sie darum auch gelesen werden: das heisst, in Bezug auf die Fragen, die sie in der Vergangenheit aufgeworfen und auf ihre je eigene Weise beantwortet haben. Das historische Interesse an allen Autorinnen und Autoren ist volatil und Moden unterworfen. (Beispiele: Marx und Husserl.) Autoren wie Freud zu historisieren, bedeutet, sie zu interpretieren und mit ihrer Hilfe Neues zu denken und zu entwerfen, und nicht, sie «anzuwenden».
Es ist lächerlich, sich auf Freud wie auf eine Autorität zu berufen, die dieses oder jenes schon vor hundert Jahren wusste. Man muss ihn nicht «aktualisieren» (wie ein Lehrbuch), um etwas mit ihm anfangen zu können – und sei es, ihm in vielen Dingen zu widersprechen.
Freud wie einen heiligen Text zu lesen, ist eine schlechte Idee.
Man kann herausfinden, warum Freud auf ein Konzept des Ödipuskomplexes kam. (Nein, es war – in einem Satz – nicht bloss die patriarchale Familienstruktur, sondern der Versuch, das Ideal eines von störenden unbewussten Wünschen gereinigten Erkenntnissubjekts zu schaffen.)
Aber man kann sich nicht affirmativ auf dieses Konzept berufen und hätte es besser vielleicht auch nie getan. Auch bei Kant sind möglicherweise die Widersprüche in seiner Moralphilosophie für uns heute interessanter als die Anweisung, «nur nach derjenigen Maxime» zu handeln, «durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde».
Eine These zum Schluss: Autorinnen und Autoren halten sich dann am besten frisch (bleiben also trotz historischem Abstand «zeitgemäss»), wenn man möglichst viel mit ihnen anstellen kann: sie gegen den Strich bürsten, sie durch sich selber interpretieren, sie kombinieren, sie ein- und wieder ausordnen, sie vom Kopf auf die Füsse und von den Füssen wieder auf den Kopf stellen – und dabei Erkenntnisse produzieren.
Oder mindestens etwas hineinlesen, um es dann wieder herauslesen zu können. Zur historischen Auseinandersetzung gehört aber nicht nur die genussreiche Metabolisierung der historischen Texte, sondern auch die Rekonstruktion des Unverdaulichen. Wenn Freud schreibt, man müsse einen Traum deuten, «wie einen heiligen Text», so ist das eine ertragreiche Fährte; Freud selbst wie einen heiligen Text zu lesen, ist eine schlechte Idee.
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