So eroberten die ZSC Lions EuropaUnd dann wollte Wladimir Putin plötzlich nicht mehr kommen
Als Underdogs gestartet, gewannen die Zürcher vor 15 Jahren die Champions League. Sie verdienten Millionen, einten die Hockeyschweiz und verärgerten die russischen Geldgeber.
Beinahe wäre der grösste Schweizer Erfolg im internationalen Club-Eishockey an europäischen Regularien gescheitert. Wenige Tage vor dem Abflug der ZSC Lions ans Final-Hinspiel der Champions Hockey League in Magnitogorsk im Januar 2009 strich die Swiss den gebuchten Charterflug. «Eine Sicherheitsmassnahme», erklärt Urs Seleger, der damals mit seiner Firma die Auslandsreisen der Zürcher organisierte. «Die Enteisungsmittel in Magnitogorsk entsprachen nicht den europäischen Standards.»
Seleger war gefordert, im Nu einen neuen Charterflug für 125 Personen an den Ural zu organisieren. Mit dem Bus in drei Tagen 4300 Kilometer quer durch Europa zu fahren, war keine Option. Da wären die Spieler völlig ausgelaugt am Zielort angekommen. Dank eines Freundes, der im Management der Schweizer Chartergesellschaft Hello arbeitete, konnte Seleger kurzfristig eine MD-90 auftreiben. Bei Hello habe man sich diebisch gefreut, die Swiss zu übertrumpfen. Die Freude währte aber nicht lange. 2012 musste die Airline Konkurs anmelden.
Mit Polizeieskorte ins Stadion
Jener Flug nach Magnitogorsk verlief störungsfrei, die Piloten trauten den lokalen Enteisungsmitteln aber auch nicht recht. «Ich glaube, sie haben im Flieger geschlafen und permanent sichergestellt, dass sich auf den Fenstern keine dicken Eisschichten bildeten», sagt Seleger.
«Es war brutal kalt, minus 15, 20 Grad, so wie man sich das am Ural vorstellt. Es war alles voller Schnee. Vom Flughafen wurden wir dann mit einer Polizeieskorte ins Stadion geleitet.» Wenn Seleger, der inzwischen in Spanien lebt, an jenen frostigen Trip nach Russland zurückdenkt, wird ihm trotzdem warm ums Herz.
Captain Mathias Seger haben sich die rauchenden Kamine der Stahlwerke auf der anderen Flussseite eingeprägt. Und dass sie für ihren Kurztrip in der eigenen Zeitzone bleiben mussten – Magnitogorsk ist vier Stunden voraus. «Wir blieben lange wach und schliefen aus.»
Der Plan ging auf. Die ZSC Lions überraschten den russischen Topclub, führten 2:0 und erkämpften sich ein 2:2. Als sie beim Rückflug die letzten Ausläufer des Ural-Gebirges hinter sich gelassen hatten, meldete sich die Flugkontrolle von Ufa und wünschte ihnen ein erfolgreiches Rückspiel. Ufa war im Halbfinal der Champions League am Rivalen aus Magnitogorsk gescheitert.
Die Champions League als Simpsons Chance
Der damalige Trainer Sean Simpson kann sich noch an jedes Detail des Zürcher Siegeszugs durch Europa erinnern. Der 63-Jährige, der seine Coachingkarriere inzwischen abgeschlossen hat, lebt heute in Zug und ausserhalb von Toronto. Als er 2008 zu den ZSC Lions stiess, waren sie unter seinem Vorgänger Harold Kreis gerade Meister geworden. Und er überlegte sich, wie er den Spielern etwas Neues bieten konnte, um sie für sich zu gewinnen. Die neu gegründete Champions League, mit den Millionen des russischen Erdgas-Riesen Gazprom finanziert, kam ihm gerade recht.
«In England geboren, habe ich den Fussball stets verfolgt», sagt Simpson. «Ich war immer fasziniert von den Clubwettbewerben. Wie die Topteams den Spagat schaffen, an den Wochenenden in der Liga zu spielen und dazwischen international.»
Simpson überlegte sich, wie er den Fokus in den Wochen mit Champions-League-Partien ganz weg von der Meisterschaft lenken konnte. So wies er Materialwart Peter Schrag an, jeweils dafür zu sorgen, dass am Montag nichts mehr in der Kabine an die Meisterschaft erinnerte. Schrag brummte zuerst und machte es dann. Auch der Spielplan in der Kabine wurde entfernt. Und trainiert wurde nur noch in der Ausrüstung für die Champions Hockey League.
Simpson beschaffte sich Videos der Gegner, was damals noch nicht so einfach war wie heute, wo alles online verfügbar ist. Und er stellte die Taktik je nach Team um, erfand etwa für die Spiele gegen Magnitogorsk ein spezielles Forechecking, damit die Russen ihre läuferischen und spielerischen Qualitäten nicht entfalten konnten. «Unsere Gegner wussten wahrscheinlich kaum etwas über uns», sagt Seger. «Wir wussten alles über sie.»
Die Champions League war damals ein elitärer Zirkel. Zugelassen waren nur zwölf Teams: je zwei aus Russland (Magnitogorsk, Ufa), Schweden (Linköping, Jönköping), Finnland (Oulu, Espoo) und Tschechien (Slavia Prag, Budejovice), die Meister aus der Schweiz (ZSC), der Slowakei (Slovan Bratislava) und Deutschland (Eisbären Berlin) sowie der SC Bern, der sich in einem Qualifikationsturnier durchgesetzt hatte. Der SCB kassierte zum Auftakt eine Kanterniederlage bei Jönköping (2:6), zwei Wochen später starteten die ZSC Lions in Linköping. Ohne viel Kredit.
Die überheblichen Schweden
Seger erzählt, wie sie in Linköping am Tag vor dem Spiel in einem Restaurant assen, eine Gruppe schwedischer Fans sie erkannte und höhnte: «Ihr denkt wohl nicht im Ernst, dass ihr eine Chance habt?» Linköping ging tags darauf dann auch schon früh in Führung, und Simpson fiel auf, dass die schwedischen Spieler nicht jubelten. «Sie dachten wohl: Das wird ein Spaziergang.» Nach 60 Minuten stand es 7:2 für die ZSC Lions. Sie hatten die überheblichen Schweden mit ihrem Tempospiel auf dem falschen Fuss erwischt.
«Da begannen wir daran zu glauben, dass wir etwas Grosses erreichen könnten», sagt Seger. «Wir wuchsen von Spiel zu Spiel. Und der Funke zündete auch bei den Fans. Nach Linköping waren noch nicht so viele gereist, aber mit jedem Spiel wurden es mehr. Es wuchs etwas zusammen. Auch deshalb hat dieser Titel eine solche Bedeutung für den Club. Wir trafen die Fans nach den Spielen, nach Magnitogorsk flogen sie mit uns im Flugzeug mit. Sie stellten ihre eigenen Mützen her mit dem alten ZSC-Logo. All das befeuerte diese Euphorie.»
So seriös Simpson die Spiele vorbereitete, er gestand den Spielern auch ihren Spass zu. Er sagt: «Du bist nicht so oft in Prag oder Helsinki. Deshalb solltest du auch davon profitieren.» Statt den Rückflug am Tag nach dem Spiel auf frühmorgens zu planen, damit er noch ein Training reinquetschen konnte, reisten die ZSC Lions erst am Mittag oder am frühen Nachmittag zurück. So konnten sie ihre Siege gebührend feiern und ausschlafen.
«Ich weiss jetzt nicht, ob ich das erzählen sollte», sagt Simpson. «Aber gut, es liegt ja schon eine Weile zurück: In Prag waren wir nach dem Spiel erst um Mitternacht zurück im Hotel, und die Spieler wollten unbedingt noch in den Ausgang. Ich zögerte, dann sagte ich: ‹Okay, aber um drei Uhr seid ihr zurück.› Wir mussten alle lachen. Eine Sperrstunde um drei Uhr morgens? Wo gibt es das schon?» Die Spieler seien dann tatsächlich alle zur vereinbarten Zeit zurückgekehrt.
Feiern mit dem Formel-1-Weltmeister
Noch später wurde es, als die Zürcher mit einem 4:1 gegen Espoo den Final erreichten und Ari Sulander anlässlich seines 40. Geburtstags alle in einen Club in Helsinki einlud. Formel-1-Weltmeister Kimi Räikkönen hatte die Lokalität organisiert und war auch dabei, später ging es noch weiter zu Sulanders Haus im Vorort Vantaa. Seine Frau verpflegte die hungrige Meute mit Chickenwings, es war eine feuchtfröhliche Feier inklusive Saunagängen. Geburtstagskind Sulander durfte die Rückreise einen Tag später antreten, im Privatjet Räikkönens.
Die wunderbare Reise der ZSC Lions kulminierte am 28. Januar 2009 im Final-Rückspiel gegen Magnitogorsk im Rapperswiler Exil, weil das Hallenstadion wegen der Umbauarbeiten zwischen CSI und Art on Ice besetzt war. Sogar der russische Präsident Wladimir Putin hatte sich zunächst angekündigt, erschien dann aber nicht. Wahrscheinlich hatte ihn das Hinspiel abgeschreckt. Eine weise Entscheidung. Putin hätte sich nur geärgert. Die ZSC Lions fegten die russischen Stars in einer mitreissenden Atmosphäre 5:0 vom Eis.
Er habe nie mehr eine bessere Stimmung erlebt als an jenem Abend, sagt ZSC-CEO Peter Zahner. «Weil es keine Gästefans gab, brandete der Jubel rundherum.» Hätten die Zürcher im Halbfinal und im Final der Champions League nicht an den Obersee ausweichen müssen, gäbe es die Swiss-Life-Arena heute vielleicht nicht. «Natürlich half mir die Argumentation mit der Champions League, wieso wir eine eigene Halle brauchen», sagt Zahner. «Uns entging damals rund eine Million Franken an Zuschauereinnahmen.»
Zwei Millionen Franken Nettogewinn
Aber auch so war die Champions-League-Kampagne für die Zürcher äusserst lukrativ. Allein an Prämien spielten sie 1,65 Millionen Euro ein, Zahner beziffert den Nettogewinn auf rund zwei Millionen Franken.
Mit ihrem Triumph sorgten die ZSC Lions aber dafür, dass es bei nur einer Austragung blieb. Die Gazprom verlor ihr Interesse nach der Schmach Magnitogorsks. «Hätten die Russen gewonnen – es wäre zu 100 Prozent weitergegangen», ist Zahner überzeugt. 2014 wurde die Champions League neu lanciert, mit weniger Preisgeld und mehr Teams, aber ohne die Russen.
Die ZSC Lions wurden nach ihrem Coup überall in den Schweizer Stadien gefeiert. «Wir waren sonst ja nicht gerade die Sympathieträger der Liga», sagt Seger. «Aber da spürte man: Wir vertraten die Schweiz.» Danach war bei ihnen aber die Luft draussen. Im Playoff schieden sie im Viertelfinal gegen Fribourg mit 0:4 aus. «Das darf durchaus auch erwähnt werden», sagt Simpson. «Ich nehme das auf meine Kappe.»
Ihr Siegeszug durch Europa stärkte aber den Glauben, dass Schweizer auch international Grosses erreichen können. Zumal die ZSC Lions im September 2009 im Victoria-Cup den Stanley-Cup-Sieger Chicago Blackhawks 2:1 schlugen. Im Frühling 2013 führte Simpson das Schweizer Nationalteam in Stockholm zu WM-Silber. 2018 tat ihm dies Patrick Fischer in Kopenhagen gleich.
15 Jahre nach dem Coup der ZSC Lions fordert nun Servette am Dienstag im Final der Champions League das schwedische Skelleftea. Simpson wird den Genfern die Daumen drücken.
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