Analyse zur KlimapolitikEs ist kompliziert – wohl wie noch nie
Der Nationalrat lehnt die Gletscherinitiative ab und befürwortet stattdessen einen Gegenvorschlag. Die Debatte war langfädig. Wie es mit der Schweizer Klimapolitik weitergeht, ist nach wie vor offen.
Der Nationalrat lehnt die Gletscherinitiative ab und hat sich auf einen direkten Gegenvorschlag verständigt. Die Schweiz soll, wie von der Initiative verlangt, bis 2050 klimaneutral werden – mit einer «über die Zeit gleichmässigen Reduktion der Emissionen». Ein grundsätzliches Verbot fossiler Energieträger ab 2050, wie es das Volksbegehren vorschreibt, will die grosse Kammer aber nicht.
Die mehrstündige Debatte geriet, einmal mehr, zu einem Schlagabtausch, der kaum neue Erkenntnisse brachte. Dafür umso mehr Versuche, die Bühne für Selbstprofilierung zu nutzen: Alarmierer und Relativierer, Anklagen und Gegenanklagen – es wirkte in der Debatte zuweilen so, als wäre die Zeit stehen geblieben, der Klimawandel ein neues Phänomen, das es erst einmal zu begreifen gilt. Dabei liegen die wissenschaftlichen Fakten längst auf dem Tisch.
Ein wichtiges Signal
Immerhin, das Ziel netto null Emissionen bis zum Jahr 2050 scheint nach dem Bundesrat nun auch im Parlament auf breite Akzeptanz zu stossen. Das ist ein wichtiges Signal. Doch Ziele zu setzen, ist das eine, die Umsetzung das andere. Die dringend nötige Klärung, wie es in der Schweizer Klimapolitik nach dem Volks-Nein zum CO2-Gesetz konkret weitergehen soll, bleibt nach der Debatte vom Donnerstag weiter unklar.
Und das dürfte noch eine Weile so bleiben. Das neue CO2-Gesetz ist in der Vernehmlassung. Die vorberatende Umweltkommission des Nationalrats arbeitet derzeit an einem indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative, also einem Gegenentwurf auf Gesetzesstufe, der schneller wirken würde als neue Bestimmungen in der Verfassung. Hängig ist schliesslich eine grosse Reform des Energie- und Stromversorgungsgesetzes.
Was denkt das Stimmvolk?
Vieles ist also in der Schwebe, die Parteistrategen sind gefordert. Welche politischen Allianzen unter welchen Vorzeichen entstehen werden, lässt sich heute noch nicht sagen. Dazu kommt eine weitere Unwägbarkeit: Was denkt das Stimmvolk? Wird es über die Gletscherinitiative abstimmen? Oder gibt es erneut eine Referendumsabstimmung über das neue CO2-Gesetz? Oder beides?
Es ist kompliziert. Wohl wie noch nie. Auch deshalb, weil Klima- und Energiepolitik zusammengehören und sich gegenseitig beeinflussen – mit allen geopolitischen Implikationen, wie sie nun als Folge des Kriegs in der Ukraine zutage treten. Einfache Lösungen hat es in diesem epischen Streit um die geeignetsten Energieformen nie gegeben. Jetzt, mit der wieder aufgeflammten Debatte um die Abhängigkeit von Energieimporten, gibt es sie erst recht nicht mehr.
Dabei werden die Folgen der Erderwärmung wohl früher und stärker eintreffen als erwartet, wie der jüngste Bericht des Weltklimarats zeigt. Umso dringlicher ist es, dass sich die Schweiz auf eine kohärente klima- und energiepolitische Strategie einigt. Alle Parteien müssen endlich den Blick fürs Ganze entwickeln und bereit sein, auch mal über den eigenen Schatten zu springen. Die verlorene Volksabstimmung zum CO2-Gesetz soll Mahnmal sein. Für die Damen und Herren im Bundeshaus heisst es also: Scheitern verboten!
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