Fachkräftemangel in der SchweizSie hat es geschafft – trotz der Hürden
Kinder mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwachen Familien sollen gefördert werden, um den Mangel an gut ausgebildeten Personen zu lindern. Studentin Djellza Lahu zeigt, wie es geht.
Diesen Moment wird Djellza Lahu nie vergessen: An der Berufsschule in Zürich wird ihr Name aufgerufen, sie geht nach vorne und nimmt ihr Matura-Zeugnis entgegen. «Ich war so megastolz, dass ich das geschafft hatte», sagt sie.
Heute studiert sie an der Pädagogischen Hochschule (PH) in Zürich und weiss: Ihre Karriere ist alles andere als selbstverständlich. Geholfen haben ihr dabei eine zünftige Portion Fleiss und das Förderprogramm Chagall.
Chagall steht hier für «Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn» und ist eine Bildungsinitiative, die vom Institut für Bildungsforschung der Universität Zürich wissenschaftlich begleitet wird. Ziel ist es, begabten Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwachen Familien den Zugang zu weiterführenden Schulen zu ermöglichen.
Das lohnt sich auch volkswirtschaftlich – gemäss einer aktuellen Studie. Insgesamt könnten hierzulande demnach bis zu 14’000 leistungsorientierte Kinder aus sozial schwachen Familien jedes Jahr zusätzlich ausgebildet werden. In einer Lehre oder an einer Hochschule.
Jährliches Potenzial: bis zu 29 Milliarden Franken
Das entspreche umgerechnet einem wirtschaftlichen Potenzial von 21 bis 29 Milliarden Franken pro Jahr – aufgrund von höheren Gehältern und einer Wertschöpfungssteigerung bei den Unternehmen, so die Autoren.
Die Untersuchung stammt vom Verein Allianz Chance+, einem Zusammenschluss verschiedener Förderprogramme wie Chagall, die sich für gerechte Bildungschancen im Jugendalter einsetzen, und des Beratungsinstituts Oliver Wyman. Sie basiert auf einer Befragung von rund 1000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Interviews mit Chefinnen und Verwaltungsrätspräsidenten und bereits vorhandenen Untersuchungen zu Bildungsverläufen in der Schweiz.
In der gezielten Förderung solcher Kinder, deren Eltern wenig gebildet sind, sieht die Autorschaft auch ein wirkungsvolles Mittel gegen den Fachkräftemangel. Bis 2035 sollen 300’000 gut ausgebildete Personen in der Schweiz fehlen. «Um im internationalen Wettbewerb zu bestehen, ist die Verfügbarkeit von gut ausgebildeten Leuten unerlässlich», heisst es. Laut Umfrage bei Grosskonzernen, aber auch von kleinen und mittelgrossen Betrieben sei der Zugang zu Talenten der wichtigste Faktor für die Standortwahl.
«Allein dadurch, dass meine Muttersprache nicht Deutsch war, hatte ich einiges aufzuholen.»
Auch Djellza Lahu nützt demnach der hiesigen Volkswirtschaft. Die 23-Jährige ist als Tochter von Einwanderern aus Kosovo in Zürich geboren und im Kreis 4 aufgewachsen. Ihr Vater arbeitete in der Fabrik, die Mutter in einer Wäscherei, beide Vollzeit. Sie hätten daheim noch mit Holz geheizt und mit Nachbarn zusammen jeweils ganze Baumstämme gekauft und sie eigenhändig zu Feuerholz zersägt: «Das kam billiger», erzählt sie. Das Treffen findet in den leeren Gängen der PH in Zürich statt, wo sie sich derzeit auf Prüfungen vorbereitet.
Die Studentin redet schnell und akzentfreies Züritüütsch, erzählt von ihrer Klasse in der Primarschule, in der lediglich zwei Kinder daheim Schweizerdeutsch sprachen: «Ich habe diesen kulturellen Mix im Quartier geliebt, der Klassenzusammenhalt war super.» Erst in der Sekundarschule sei ihr dann bewusst geworden, dass sie gegenüber anderen einiges aufzuholen hatte: «Allein dadurch, dass meine Muttersprache nicht Deutsch war.»
Die Studie spricht hier von «strukturellen Hürden», die Kinder wie Djellza im Laufe ihrer Schulzeit zu meistern hätten. Sie reichten von fehlenden Vorbildern in der Familie über finanziellen Druck bis zu Informationsdefiziten hinsichtlich Berufs- und Ausbildungsperspektiven. Auch mangelnde Förderung in der Berufs- und Ausbildungswahl oder die Tatsache, dass Lehrpersonen und Vorgesetzte eher voreingenommen sind, beeinflussten die schulischen Karrieren solcher Kinder massgeblich, heisst es weiter.
«Es steht ausser Zweifel, dass die soziale Herkunft ein wichtiger Faktor ist, der die Bildungslaufbahn von Jugendlichen prägt.»
Angefragte Fachfrauen bestätigen den Sachverhalt: «Es steht ausser Zweifel, dass die soziale Herkunft ein wichtiger Faktor ist, der die Bildungslaufbahn von Jugendlichen – unabhängig ihrer Schulleistungen – prägt. Es gibt bei den Jugendlichen deshalb zweifellos ein Potenzial, das besser gefördert werden könnte», sagt Bildungsforscherin Irene Kriesi von der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung in Bern.
Das zeigt sich auch in den Gymnasialquoten: Die stärksten Schüler aus dem sozio-ökonomisch schwächsten Viertel der Gesellschaft haben eine gleich hohe Gymiquote (47%) wie die schwächeren aus den finanziell am besten gestellten Familien (46%).
Und Benita Combet, Bildungssoziologin der Universität Zürich, fügt an: «Die Ergebnisse zu den Bildungsnachteilen von Personen aus sozioökonomisch bescheidenen Verhältnissen decken sich mit dem Resultat zahlreicher wissenschaftlicher Studien. Dass eine Consultingfirma aber Nutzen darin sieht, diese Ergebnisse auch nochmals aufzubereiten, hinterlässt den Eindruck, dass dieses Wissen in der Schweizer Bevölkerung, in der Wirtschaft und gegebenenfalls auch in der Bildungsverwaltung bekannter sein könnte.»
Tatsächlich hätte sich Djellza Lahu, deren Eltern in Kosovo studiert hatten – der Vater war Soziologe, die Mutter Wirtschaftslehrerin, aber ihre Abschlüsse waren in der Schweiz nichts wert –, in der Schule mehr Unterstützung gewünscht: «Ich war immer eine gute Schülerin und wäre gern ans Gymi. Ich wollte schon damals Lehrerin werden», sagt sie. Aber ihre Lehrerin habe ihr davon abgeraten, sie würde das nicht schaffen. Sie schüttelt den Kopf: «Ich hätte mich nicht beeinflussen lassen sollen.»
So fasste sie einen kühnen Plan und entschied sich für eine Lehre als Hochbauzeichnerin – aber mit Berufsmittelschule (BMS), um später doch noch studieren zu können. Um auf die Aufnahmeprüfung zu lernen, bewarb sie sich für das Förderprogramm Chagall, das sie kannte, weil bereits ihr älterer Bruder davon profitiert hatte. Sie wurde aufgenommen – aber damit fing der Stress erst an: Chagall heisst nämlich, jeden Mittwochnachmittag und jeden Samstagmorgen zusätzlich zu büffeln. Das war hart: «Aber ohne Chagall hätte ich die Aufnahmeprüfung nie geschafft. Ich lernte dort auch, wie man lernt.»
Damit möglichst alle leistungswilligen Kinder mit Potenzial eine Laufbahn wie Djellza Lahu absolvieren können, fordert die Studie einen «Schulterschluss zwischen Wirtschaft und Bildungsinstitutionen». Die Handlungsvorschläge reichen von der Frühförderung von Kindern mit nicht deutscher Muttersprache über frei zugängliche Prüfungsvorbereitungen für Gymnasium und BMS bis zur Förderung des Werkstudenten-Ansatzes und systematischen Talentförderung in Unternehmen.
Ohne Prüfung ans Gymi?
Benita Combet empfiehlt zudem, die Kinder, «wie in den meisten anderen Ländern», erst nach der obligatorischen Schulzeit in unterschiedliche Leistungszüge aufzuteilen, und «prüfungsfreier Zugang zu den Gymnasien sollte Standard sein, weil eine Prüfung offensichtlich nur die Tagesform misst». Zudem fordert sie «Stipendien, die das Studieren ohne die Notwendigkeit zur Teilzeitarbeit ermöglichen, damit auch Vollzeitstudienfächer wie Medizin studiert werden können».
Von einem breiteren Wissen in der Bevölkerung hätte auch Djellza profitieren können. Denn an der BMS sei ihr erstmals bewusst geworden, dass die Welt nicht so divers war, wie sie das aus ihrer Kindheit her kannte. Jetzt stammten 20 von 24 Jugendlichen aus Schweizer Familien, «und für uns Kids mit Migrationshintergrund war es schwieriger, in die Klasse aufgenommen zu werden. Ich hatte erstmals das Gefühl, mich ständig beweisen zu müssen – als Nicht-Schweizerin, aber auch als Frau.»
Aber sie biss sich durch und schloss mit Erfolg die Lehre ab. Dann begann sie, ihren Traum zu leben. Sie will Sekundarlehrerin werden: «Damit ich den Jugendlichen dank meiner Erfahrung bei diesem wichtigen Schritt in die Zukunft helfen kann.»
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