AKW in der UkraineSie erpressen die Welt
Russland missbraucht das Kraftwerk von Saporischschja als nuklearen Schutzschild. Aber auch die Ukraine will das AKW taktisch nutzen.
Indem der Angriffskrieger Wladimir Putin die Ukraine überfiel, war klar: Das ist ein Krieg, in dem auf der einen Seite eine Atommacht kämpft. Russland, es lag auf der Hand, könnte mit der Doomsday-Waffe drohen. Dabei dachten die Skeptiker unter den Militärs, den Politikern und den Beobachtern an «kleine» Atombomben. Mit dem Einsatz einer taktischen Atomrakete könnte der kaum ein Risiko scheuende Kreml-Chef versuchen, den Waffengang im Handstreich zu beenden. Würden die westlichen Atommächte ihrerseits darauf mit einem Atomschlag reagieren? Wohl kaum.
Zu diesem Schreckensszenario ist es bisher nicht gekommen. Im sechsten Monat des Konflikts nimmt die nukleare Bedrohung aber andere Gestalt an. Ukrainer und Russen kämpfen an einem der grössten Atomkraftwerke Europas. Rund um die Anlage von Saporischschja mit ihren sechs Reaktorblöcken explodieren Raketen und Granaten. Ob ein vom Kurs abgeratenes Geschoss einen der Reaktoren trifft, eine Granate das Kühlsystem zerstört oder eines der randvollen Lager für die ausgemusterten Brennstäbe in die Luft fliegt: Es droht der GAU im Kriegsgebiet.
Kriegswichtig im Sinne eines Geländegewinns ist das Kernkraftwerk weder für die Russen noch für die Ukrainer. Kriegswichtig ist der Meiler allein wegen seines ungeheuerlichen Erpressungspotenzials. Nun schaut alle Welt nach Saporischschja. Und fragt sich, wie man diesem neuen Irrsinn Einhalt gebieten kann. Die Öffentlichkeit mag den Ukraine-Krieg nach einem halben Jahr des Gemetzels als schrecklich, aber faktisch hinnehmen. Er entsetzt nicht mehr so sehr wie nach den russischen Gräueltaten von Butscha oder der Bombardierung des Theaters von Mariupol, in dem Frauen und Kinder Schutz gesucht hatten.
Erst die Gefahr eines Atomunfalls nahe den EU-Grenzen lässt die Menschen wieder aufhorchen. Von der Verstrahlung nach einem GAU könnten die Nachbarländer schnell betroffen sein. Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien, das nahe Deutschland. Und, selbst wenn Menschenleben für Putin kein Gewicht haben, auch der Süden Russlands.
Diese Gefahr ist real. Russische Soldaten haben sich auf dem Gelände mit seinen Reaktorhallen einquartiert. Sie zwingen die ukrainischen Techniker mit vorgehaltener Waffe, die Anlage zu fahren. Moskau behauptet zwar, die Soldaten seien im AKW, um es zu sichern. Aber der Kreml hat das Kraftwerk samt seiner Mannschaft als Geisel genommen, er missbraucht es als nuklearen Schutzschild. Die russischen Truppen müssen die Ukrainer dabei nicht einmal vom Kraftwerk selbst aus angreifen. Es reicht, wenn sie ihre Artillerie vor den Aussenmauern aufstellen: Sobald die Ukrainer auf den Beschuss reagieren – was sie tun –, ist das AKW gefährdet.
Es wäre allerdings zu einfach, nur Russland zu verurteilen. Beide Kriegsparteien spielen dasselbe Spiel. Sie erpressen einander und die Welt, indem sie die Atomanlage gefährden. Die Ukrainer erhoffen sich noch mehr Unterstützung aus dem Westen für ihren Kampf. Und der Kreml setzt auf das Gegenteil: Wenn die Risiken für die Nachbarstaaten steigen, könnten die Ukraine-Unterstützer versucht sein, Kiew zur Unterschrift unter einen russischen Diktatfrieden zu drängen.
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