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Flüchtlinge in Weissrussland
Sie campieren in der Kälte, zwischen zwei Reihen aus Soldaten

Lassen sich nicht abschrecken: Migranten bauen an der Grenze zu Polen Hütten und versuchen sich am Feuer warm zu halten.
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Die Menschen sammeln sich immer noch vor dem Einkaufszentrum Galereja in Minsk, in Gruppen stehen sie mit Rucksäcken und Reisetaschen zusammen. Sie wollen los, nach Polen, nach Deutschland, aber erst müssen sie über die Grenze. Die Bilder, die andere Geflüchtete aus den Zeltlagern dort über soziale Medien teilen, der Frost, die Gewalt weissrussischer Soldaten, all das schreckt sie nicht ab. Sie kaufen Schlafsäcke, warme Kleidung, SIM-Karten, Proviant. «Sie sind dort ständig präsent», berichtet Igor Iljasch, der als einer der letzten unabhängigen Journalisten in Weissrussland ausharrt, weil seine Frau dort wegen ihrer Berichterstattung im Gefängnis sitzt.

Seit Monaten beobachtet Iljasch nun schon, wie die Flüchtlinge in Weissrussland ankommen. Das Regime von Alexander Lukaschenko lockt sie mit dem Versprechen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan nach Weissrussland, dass sie von dort aus in die EU kommen. Anfang der Woche liess der Diktator die Lage eskalieren, grosse Gruppen Geflüchteter strömten offenbar koordiniert an die Grenze. Wie lange noch, ist unklar: Nach Sanktionsdrohungen der EU lässt die Türkei Staatsbürger mehrerer arabischer Länder nicht mehr nach Minsk fliegen.

Flüchtlinge als «Gehilfen» des Diktators

Die Weissrussen selbst beobachteten diesen Flüchtlingsstrom mit gemischten Gefühlen, sagt Igor Iljasch. Manche hätten natürlich Mitleid mit den Menschen, die bei Minustemperaturen im Wald ausharren. Andere betrachteten die Flüchtlinge als Gehilfen von Diktator Lukaschenko in dessen «hybrider Attacke gegen den Westen». Lukaschenkos Ziel dabei sei, den Status quo in Weissrussland zu erhalten, also Gesetzlosigkeit, Repressionen, Folter. Wer das so sieht, der könne kaum Mitleid mit den Migranten haben, sagt Iljasch.

Tausende sitzen bereits im Grenzbereich fest, campieren zwischen zwei Reihen aus Soldaten, vor ihnen die polnischen, hinter ihnen die weissrussischen. Die Polen lassen sie nicht über die Grenze, drängen sie zurück, die Weissrussen drängen sie nach vorne, lassen sie nicht mehr weg aus dem Grenzgebiet. Sie schiessen zur Abschreckung in die Luft, wie Videoaufnahmen zeigen. Sie schlagen offenbar auch zu, im Internet teilen Flüchtlinge Bilder von Kopfwunden. Bereits vergangene Woche gab es Meldungen, dass zehn Menschen erfroren seien.

Ein Anruf aus einer europäischen Hauptstadt wäre bereits ein Triumph.

Lukaschenko will sich auf diese Weise an der EU für deren Sanktionen rächen, sagen die einen. Er möchte die EU spalten, um neue Sanktionen zu verhindern, sagen andere. Eines möchte Lukaschenko ganz sicher: dass man wieder mit ihm spricht. Brüssel betrachtete den Diktator nach der gefälschten Präsidentschaftswahl 2020 nicht mehr als legitimes Staatsoberhaupt. Ein Anruf aus einer europäischen Hauptstadt wäre bereits ein Triumph für ihn. «Er denkt, dass sich Probleme vor allem durch Macht lösen lassen», sagt Politikwissenschaftler Andrei Kasakewitsch. «Beziehungen zu verbessern bedeutet für ihn, dass die EU seine Position als Chef in Weissrussland und in der Region akzeptiert.»

Will, dass die EU ihn als Präsidenten anerkennt und wieder mit ihm spricht: Alexander Lukaschenko. 

Seine Isolation in Europa macht ihn umso abhängiger vom Kreml, was Lukaschenko nicht gefallen kann. Mit Moskaus Hilfe baut Lukaschenko nun seine Drohkulisse aus. Als russische Langstreckenbomber Mitte der Woche an der Grenze zu Polen patrouillierten, wies der Diktator darauf hin, dass diese auch «nukleare Waffen tragen können». Er verbreitet haarsträubende Theorien. Etwa, dass Europa den Flüchtlingsstrom nach Weissrussland selbst durch «Mafia-ähnliche Strukturen» organisiere. Polen dränge die Flüchtlinge nach Weissrussland, nicht andersherum, ausserdem rücke das Nachbarland mit Leopard-Panzern gegen die Hilfesuchenden vor. Weissrussland dagegen versuche den Frieden zu wahren. «Weil wir wissen, dass wenn – Gott bewahre – wir einen Fehler machen, schwanken, Russland sofort in diesen Strudel hineingezogen wird. Und Russland ist eine grosse Atommacht.»

In den Grenzdörfern hat man Angst

Die Weissrussen, die in Grenznähe wohnen, machen sich über ganz andere Dinge Sorgen. «Man denkt so: Wenn die Flüchtlinge kein Geld mehr haben, was tun sie dann? Die Einwohner aus den Grenzdörfern haben Angst», sagt die 45-jährige Tatjana am Telefon, sie lebt 20 Kilometer von der Grenze. Nachts werde es bei ihnen minus fünf Grad kalt, die Flüchtlinge täten ihr leid, es seien ja auch Kinder darunter. «Laut dem Dorfklatsch wurden sie alle in den Wald getrieben, und sie sitzen dort in ihren Zelten. Was passiert mit ihnen? Niemand versorgt sie mit Essen.»

Die weissrussische Opposition hat Angst, dass Lukaschenko die EU mit seiner perfiden Strategie doch zu Zugeständnissen zwingen könnte. Die meisten Oppositionellen sitzen im Exil oder im Gefängnis, 846 politische Gefangene zählen Menschenrechtler derzeit in Weissrussland. Pawel Latuschko, einer der führenden Köpfe der Demokratiebewegung, plädiert in seinem polnischen Exil dafür, Lukaschenko zum Terroristen zu erklären. Denn er missbrauche die Menschen, «die an der Grenze sterben, für seine politischen Ziele – genau so, wie er die Weissrussen terrorisiert.»