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Flüchtlingselend in Osteuropa
Tausende Migranten sind im Niemandsland gefangen

Für sie gibt es weder ein Vorwärts noch ein Zurück: Flüchtlinge an der weissrussisch-polnischen Grenze in der Region Grodno. 
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Nach dem Morgenfrost kam die Reparatur. Heute Dienstag versuchten polnische Pioniere gleich in der Früh, mit Baggern ein Loch zu stopfen. Migranten hatten es tags zuvor mit Metallschneidern in die letzte Stacheldrahtbarriere geschnitten, die sie beim Grenzort Kuznica noch von Polen – und damit von der EU – trennt.

Die in sozialen Netzwerken und vom weissrussischen Grenzschutz verbreiteten Videos zeigen Hunderte von Migranten, die hier dem Nachtfrost von minus zwei Grad in dem Waldgebiet zwischen Weissrussland und Polen in kleinen Zelten und mit Lagerfeuern standgehalten hatten.

Eine Sprecherin des polnischen Grenzschutzes schätzte, dass allein bei Kuznica rund 800 Migranten auf weissrussischer Seite auf einen Übergang hofften. Die Polen wiederum versuchten, das nicht nur mit dem reparierten Stacheldraht zu verhindern, sondern hatten hinter der Barriere Grenzschützer, Soldaten und Polizisten mit Dutzenden Mannschaftswagen und Lastwagen Aufstellung nehmen lassen und Wasserwerfer herbeigeschafft.

Polen verzichtet auf Frontex-Unterstützung

Polens Parlament diskutierte in einer Sondersitzung über die Grenzkrise. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki teilte vor einem morgendlichen Besuch an der Grenze mit, Polen wolle «die Versiegelung seiner Grenze». Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak erklärte, die Lage sei «unter Kontrolle». Auch Polens Präsident Andrzej Duda gab sich nach einem Telefonat mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg optimistisch. «Es gibt eine ausreichende Zahl an Soldaten, Grenzschützern und Polizisten und ausreichend Infrastruktur. Wir beherrschen die Lage», liess Duda verlauten.

Regierungsvertreter waren für eine formelle Konsultation mit der Nato. Einen Einsatz der EU-Grenzschutzagentur Frontex aber lehnte Warschau ab. «Welchen Sinn hat es, Frontex einzuladen, wenn wir selbst gut zurechtkommen?», sagte etwa Vizeinnenminister Piotr Wawrzyk.

Tatsächlich steht die Grenzkrise unter einem grossen Fragezeichen. Nach wie vor kommen Flüchtlinge und Migranten aus Weissrussland über die allein zu Polen gut 400 Kilometer lange Grenze. Das aus verschiedenen Bürgergruppen bestehende polnische Hilfsnetzwerk Granica traf zum Beispiel am Montag ausserhalb der Sperrzone an der Grenze beim Dorf Narewka drei Syrer an, die um Asyl bitten wollten. Am Dienstagmittag entdeckten die Helfer an der gleichen Stelle 16 irakische Kurden, unter ihnen neun Kinder.

Polens Grenzschutz zufolge sollen neben den zahlreichen Migranten bei Kuznica weitere gut 3000 Menschen auf Weissrusslands Seite der Grenze sein. Der weissrussische Oppositionelle Franak Viacorka berichtete, in Minsk versammelten sich noch mehr Migranten, offenbar um an die Grenze gebracht zu werden. Ihnen werde in Minsk oft keine Unterkunft mehr bereitgestellt, sie müssten im Freien übernachten. Viacorka forderte eine Hilfsaktion der Vereinten Nationen an der polnisch-weissrussischen Grenze – bisher lehnt Warschau dies ab.

Der direkte Zugang zur Grenze ist Helfern, internationalen Beobachtern und selbst Ärzten verboten. Die nahe der polnischen Sperrzone arbeitende Hilfsorganisation «Mediziner an der Grenze» berichtete heute Vormittag, Soldaten hätten ihnen die Luft aus den Reifen ihrer Ambulanz gelassen. Offensichtlich taten sie dies, um die Mediziner an weiterer Hilfe für in den Wäldern gestrandete Migranten zu hindern.

Auch Litauen ruft den Ausnahmezustand aus

Wie Polen will nun auch Litauen wegen anhaltender Grenzüberquerungen durch Migranten aus Weissrussland an der Grenze den Ausnahmezustand ausrufen. Der Infodienst Delfi berichtete unter Berufung auf Migranten, die in der Nacht auf litauisches Gebiet gelangt waren, dass das weissrussische Militär sie aus einem Zeltlager von der polnischen Grenze mit Lastwagen an die Grenze zu Litauen transportiert habe.

Südlich des Dorfes Kapcamiestis habe man ihnen dann geraten, in kleinen Gruppen die Grenze zu überqueren. Migranten, die das Zeltlager an der Grenze zu Polen nicht verlassen wollten, seien mit Schüssen von weissrussischen Soldaten eingeschüchtert worden. Bei der im weissrussisch-litauischen Grenzgebiet gestrandeten Migrantengruppe handelte es sich um rund 500 Männer, Frauen und Kinder.

Litauen will nun im Ausnahmezustand den Zugang zum Grenzgebiet, ähnlich wie zuvor Polen, verbieten. Ausserdem hat Litauen an seiner knapp 680 Kilometer langen Grenze zu Weissrussland mit dem Bau eines stacheldrahtgekrönten Stahlzauns begonnen.

«Lukaschenko möchte den Druck auf die EU noch erhöhen, um sie zu Gesprächen mit ihm zu zwingen.»

Pawel Sljunkin, Analyst und Ex-Diplomat Weissrusslands

Seit Juni würden Migranten in Minsk eingesammelt, in Bussen zur Grenze gebracht und dort Richtung Polen gedrängt, sagt der weissrussische Ex-Diplomat Pawel Sljunkin, Analyst der Denkfabrik European Council on Foreign Relations. «Nun aber möchte das Regime den Druck auf die EU noch erhöhen, um sie zu Gesprächen mit ihm zu zwingen.» Lukaschenko habe entschieden, weiter zu gehen und Tausende Menschen an die Grenze zu schicken, erklärt Sljunkin. «Ich denke, dass dies organisiert ist, auch wenn ich keine Beweise habe.»

Zudem seien die Flüchtlinge nun «gefangen, weil die weissrussischen Grenzschützer ihnen nicht erlauben, zurückzukommen». Videos zeigen tatsächlich, wie Grenzschützer Schüsse abfeuern. Ganz offensichtlich, um Flüchtlinge von einer Rückkehr abzuschrecken. Und immer mehr Belege deuten darauf hin, dass Tausende Migranten nur mit Zutun der weissrussischen Behörden ins Grenzgebiet kamen.

Die Hoffnung auf ein besseres Leben erfüllt sich noch lange nicht: Flüchtlinge und Migranten, die nach Polen wollen, aber nicht können.

Das Regime in Minsk selbst gibt sich unschuldig und stellt Polen mithilfe von Videobildern von der Grenze als Aggressor dar. «Den Flüchtlingen zufolge haben sie sich selbst zu einer so grossen Gruppe organisiert, um die Zwangsvertreibungen von der polnischen Seite auszuschliessen», sagte Anton Bytschkowskij vom weissrussischen Staatsgrenzkomitee der Nachrichtenagentur Ria Nowosti.

Auf allen Kanälen sendete das weissrussische Regime demonstrativ Warnungen nach Warschau – und dies dürfte die Lage kaum deeskalieren. Das Verteidigungsministerium in Minsk kommentierte, dass der «Einsatz von 10’000 polnischen Soldaten an der weissrussischen Grenze eine bedeutende militärische Aktivität ist». Das verstosse gegen das gemeinsame Abkommen «über regionale Vertrauens- und Sicherheitsmassnahmen».

Das weissrussische Aussenministerium warnte die polnische Regierung vor «Provokationen und vor gesetzeswidrigen Militäraktionen gegen unbewaffnete Menschen, darunter viele minderjährige Kinder und Frauen». Dabei zeigen viele Bilder aus dem Grenzgebiet direkt hinter den Migranten auch viele uniformierte weissrussische Einsatzkräfte.

Moskau stellt sich hinter Lukaschenko-Regime

Unterstützung erhält Lukaschenko aus Moskau. Aussenminister Sergei Lawrow forderte heute Dienstag, alle Länder, in denen Flüchtlinge ankommen, müssten gleich behandelt werden. Die Türkei habe schliesslich auch Hilfen aus der EU bekommen. Er überging, dass Lukaschenko die Krise seit Ende Mai selbst initiierte und dies sogar im Parlament in Minsk ankündigte.

Stattdessen machte Lawrow die EU verantwortlich für Flüchtlingskrisen, die aus einer «Politik erwachsen, die die Nato und die EU-Länder seit vielen Jahren im Nahen Osten und in Nordafrika betreiben», indem sie dort ihre Vorstellungen von einem besseren Leben und von Demokratie durchzusetzen versuchten. Der Irak, Libyen und Syrien, so Russlands Aussenminister, seien Opfer dieser Politik des Westens.