Selbstverteidigung und Gewaltprävention«Lasst die Hölle auf eure Gegner niederfahren!»
Gewalttaten nehmen zu, das Interesse an Selbstverteidigung auch. In einem Keller lernen Männer und zwei Frauen, was zu tun ist, wenn es ernst wird.
Der Trainer streckt einen Finger nach dem anderen in die Höhe. «Das sind Waffen.» Die Hände, ebenfalls Waffen. Stirn, Ellbogen, Knie, alles Waffen, die man im Unterschied zu einem Pfefferspray nie zu Hause liegen lasse.
Sieben Männer um die dreissig, mit kurzen Haaren, sportlich, gesund, aufgeräumt, treffen sich an einem Dienstagabend in einem unterirdischen Trainingsraum in Zürich. Weisser Beton, helles Licht, ein Plakat mit der Aufschrift: «Functional Fighting. Lerne jetzt einfache und effektive Selbstverteidigung. Wir machen gute Menschen stark!»
Vor dem Training für Fortgeschrittene gibt es einen Schnupperkurs. Dessen Leiter Tian Wanner erwähnt, es hätten sich eigentlich auch sieben Frauen angemeldet, aber – Blick auf die Uhr – von ihnen werde heute wohl keine erscheinen. Auf die Frage, weshalb sie hier seien, antwortet ein Teilnehmer, er wolle fähig sein, seine Familie zu verteidigen. Ein Arzt sagt: «Ich habe bei Rettungseinsätzen schon Gewalt gegen Notfallsanitäter erlebt.» Jemand anderer, er wohne an der Langstrasse und wolle nachts auf dem Heimweg dieses mulmige Gefühl loswerden. «Ich bin in den letzten Ferien in Tel Aviv überfallen worden.» – «Ich wohne in Gewaltstetten.» Gelächter in der Runde.
2023 haben sich laut Bundesamt für Statistik in der Schweiz 2057 schwere Gewalttaten ereignet, eine Zunahme um 5,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und der höchste Wert, seit die Erhebung 2009 durchgeführt wird. Bei schweren Körperverletzungen betrug der Anstieg mehr als 15 Prozent. Obwohl wir im internationalen Vergleich nach wie vor in einem sicheren Land leben und obwohl man bei solchen Statistiken den Anstieg der Wohnbevölkerung mitberücksichtigen muss, greift offensichtlich ein Gefühl der Unsicherheit um sich. Warum sonst hat die Zahl der Interessenten für «Functional Fighting»-Selbstverteidigungskurse, wie Wanner ausführt, seit 2022 jährlich um 40 Prozent zugenommen? Die Anzahl der Absolventen bezeichnet Wanner etwas unscharf als «dreistellig», davon seien 47 Prozent Frauen.
«Ihr könnt eure eigenen Bodyguards werden»
Beim Schnuppertraining duzt man sich. «Ihr könnt eure eigenen Bodyguards werden», sagt Wanner, der nicht nur Trainer, sondern auch Begründer und Inhaber von Functional Fighting ist. Die Methode beruhe auf der israelischen Kampftechnik Krav Maga, was aber nichts mit Politik zu tun habe. Politische Statements, ideologische Sprüche, weltanschauliche Fehden hätten hier nichts verloren, auch keine Profilierungssucht, Rüpelhaftigkeit oder Machotum. «Das ist eine arschlochfreie Zone», sagt Wanner.
Vorhin, als vom Überfall in Tel Aviv und einem entrissenen Handy die Rede war, fragte der Trainer den Teilnehmer: «Bist du am anderen Morgen ohne Stich- oder Schussverletzung aufgewacht? In deinem Hotelzimmer, einfach ohne Handy?» Nicken des Opfers. «Dann hast du sehr vieles richtig gemacht», sagt Wanner, denn jeder vermiedene Kampf sei ein gewonnener Kampf. Der Überfallene wirkt etwas überrascht. Gar nicht erst zu versuchen, einen Diebstahl zu verhindern, das soll geglückte Selbstverteidigung sein?
Wanner, die Haare kurz wie jene seiner Schüler, die Körperhaltung gerade, wendet sich einem Flipchart zu, er zeichnet eine rote Linie für jenen Moment, in dem eine Auseinandersetzung in körperliche Gewalt umschlägt. Diesseits dieser Linie zu bleiben, alles zu tun, um sie nicht zu überschreiten, das sei das erste und oberste Ziel. Wie man das schafft? Ständige Aufmerksamkeit, um gefährliche Situationen zu erkennen, sich rechtzeitig zurückziehen. «Das heisst nicht abhauen, sondern ‹taktischer Rückzug›», sagt Wanner, die Runde lacht.
Trete einem jemand aggressiv gegenüber, dann müssen Körperhaltung, Gestik und Mimik selbstbewusst wirken. Die Hände abwehrend erhoben, aufrechter Oberkörper, das Standbein leicht nach hinten, Sätze wie «Keinen Schritt weiter!» – «Legen Sie das hin!» Die Teilnehmer des Einführungskurses üben das jetzt, «kommt aus eurer Komfortzone!» (Wanner). Vielkehliges Gebrüll gegen imaginäre Gegner dröhnt durch den Trainingsraum.
Um Fairness geht es hier nicht
Und wenn alle Vorsicht, alle abwehrende Gestik, alles entschlossene Rufen nichts nützt? Wenn man jenseits der roten Flipchart-Linie gerät, also mit roher Gewalt konfrontiert ist? Dann gehe es darum, den Gegner binnen Sekunden auszuschalten, sagt Wanner, um so schnell wie möglich flüchten zu können. «Was wir hier üben, ist kein Kampfsport. Es geht nicht um Fairness, es geht um Notwehrverteidigung, um dirty fighting.» So einfach und wirkungsvoll wie möglich.
Geübt wird in Zweiergruppen mithilfe von schwarzen, gepolsterten Pratzen aus Kunstleder. Ein Kursteilnehmer schnallt sich eine Pratze an die Hand und hält sie in die Höhe, der andere schlägt mit dem Handballen dagegen. Im Ernstfall wäre die Pratze das Gesicht des Angreifers. Schlag von links, von rechts, Wanner und ein anderer Trainer gehen herum, nicht so weit ausholen, auf die Körperstellung achten, ja, genau so.
Geübt werden auch eine Attacke gegen die Augen des Gegners mit beiden Daumen und ein plötzlicher Abwehrschlag mit dem Ellbogen. Der Schreibende macht selber ein wenig mit, die Bewegungen sind ungewohnt und ziemlich ermüdend, ausserdem muss man sich konzentrieren, um den Körper des Trainingspartners, Pratze hin oder her, nicht versehentlich zu treffen. Geredet wird wenig.
Der journalistische Blick nach Bruchlinien, die berufsmässig aktivierten Skeptik-Sensoren, sie ergeben für einmal nichts. Nicht ein Hauch männerbündisch-verschwiemelter Selbstverteidigungsparanoia geht durch die Halle, wie man sie aus Reportagen über Schiesskeller kennt oder aus Dokus über Möchtegernhelden, die sich im Wald das Gesicht mit Tarnfarbe beschmieren, in der Hoffnung, einen Atomkrieg zu überleben. Bei keinem Functional-Fighting-Teilnehmer kommt der Verdacht auf, er sei in Wahrheit hier, weil er sich bei der nächsten selbstangezettelten Wochenendkeilerei in der Beiz mehr Schlagkraft erhofft.
Wie hat Wanner vor zwei Wochen in seinem Büro den typischen Absolventen seiner Kurse beschrieben? «Geerdet, oft Leute aus der Mittelschicht, viele mit akademischem Hintergrund, ausgestattet mit persönlichen Ressourcen.» Natürlich redet jeder Inhaber eines Unternehmens gegenüber der Presse gut von seinen Kunden – aber der Einführungskurs sowie der anschliessende Kurs für Fortgeschrittene vermitteln den Eindruck, dass Wanners Worte mehr sind als PR in eigener Sache.
Annas schreckliches Erlebnis
Die 25-jährige Basler Studentin Anna (Name geändert) nimmt jeweils an einem anderen Tag am Training teil, deshalb erzählt sie am Telefon von einem schrecklichen Erlebnis. Vor einiger Zeit habe sie ein Mann im Zug bedroht, er habe vor sich hingemurmelt, aus einer Flasche Wein getrunken, sie angestarrt und schliesslich ein Messer hervorgenommen. «Ich war wie eingefroren, ich fühlte mich hilflos, ich hatte Todesangst», sagt Anna. An der nächsten Station, an der sie umsteigen muss, verlässt auch der Mann den Zug. Um ihren Anschlusszug zu nehmen, muss Anna durch eine Unterführung, doch sie sieht dort den Fremden herumstehen, als würde er auf sie warten. Sie steigt in den nächstbesten Zug, auch wenn es nicht jener ist, der sie nach Hause bringt. Nur weg.
Anna ist überzeugt, dass ihr das heute, nach zwei Jahren Selbstverteidigungstraining, nicht mehr passieren würde. Sie sagt, allein ihre Ausstrahlung würde den Mann daran hindern, sein Messer auszupacken. «Ich würde nicht mehr wie eine Beute dasitzen, sondern wie eine Frau, die bereit ist, sich zu verteidigen.» Deshalb komme es auch nicht mehr vor, dass sie ein Mann in einer Bar blöd anquatsche. Oder dass ihr jemand auf dem Nachhauseweg folge und sie sich bedroht fühle. «Ich habe eine andere Sicht auf mich als Frau, und das bestimmt, wie ich von aussen wahrgenommen werde.»
Jeannette Vögeli ist zertifizierte Street-Combatives- (also Strassenkampf) und Krav-Maga-Instruktorin. Seit mehr als 10 Jahren unterrichtet sie vorwiegend Frauen und Angehörige der queeren Community in Functional Fighting. Die meisten Frauen machen laut Vögeli zunächst einen zweitägigen Kurs, bei dem sie lernen sollen, ihre Grenzen verbal und durch Körpersprache einzufordern, oder, wie es die Trainerin formuliert, «sich bewusst zu werden, nicht immer nett sein zu müssen».
Genitaltritt, kratzen, beissen
Und klar, einige Grundtechniken wie der Handballenstoss gehören dazu, ausserdem Techniken in «dirty fighting», Genitaltritt, kratzen, beissen, Finger in die Augen. Oder einer Puppe mit voller Kraft eine Ohrfeige geben, um die Erkenntnis mental zu verankern: Ich kann das. Jene, die mehr wollen als einen kurzen Workshop – wie die Studentin Anna –, gehen danach ins reguläre Training, an dem auch Männer teilnehmen. Denn draussen in der Realität, sagt Vögeli, seien die Angreifer meistens männlich.
Eingefroren, dem eigenen Erschrecken ausgeliefert hat sich als junger Mann auch Wanner einmal gefühlt. Vor 25 Jahren erlebte er, wie jemand am Bürkliplatz in Zürich zusammengeschlagen wurde. «Ich war unfähig, irgendetwas zu tun.» Es sei der Moment gewesen, in dem er beschlossen habe, Selbstverteidigungstechniken zu lernen. Gedemütigt von der eigenen Hilflosigkeit, nie mehr habe er in eine solche Lage geraten wollen.
Heute zählt Wanner auf der Website seines Unternehmens Ausbildungen und Kompetenzen auf, eine lange Liste: Instruktor für Messer- und Stockkampf, für Teleskopschlagstock und Pfefferspray, für «Urban Survival» und «Street Combatives», für «Stop the Bleed», «Krav Maga Women’s Self Defence» und «Active Killer Defense», «Empty Hands Knife Defense Coach», Level 1 und 2. Ausserdem ist er Schiesslehrer, Trainer für «Dynamisches Schiessen», «Violence Prevention» und manches mehr. Ist das nicht etwas übertrieben, hat er das wirklich nötig? Die erbsenzählerische Genauigkeit dieser Liste ist jedenfalls leicht irritierend.
Während des Gesprächs in seinem Büro oberhalb des Trainingskellers wirkt Wanner indessen überzeugend, wenn er betont: Das Wichtigste bei der Selbstverteidigung sei, es gar nicht erst zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung kommen zu lassen. Dass man aus dem Nichts grundlos angegriffen werde, sei eher selten. Oft habe eine Schlägerei eine Vorgeschichte, und manchmal müsse man im Nachhinein zugeben: Hätte man sich anders verhalten, wäre es nicht so weit gekommen. «Das eigene Ego im Griff zu haben, ist bei der Deeskalation eines Konflikts entscheidend», sagt Wanner.
Nach dem Einführungstraining übt im unterirdischen Trainingsraum eine Gruppe Fortgeschrittener – diesmal sind neben einem Dutzend Männern auch zwei junge Frauen dabei – den Einsatz der «Hammerfaust», laut Wanner «ein Tool», das auf kurze Distanz extrem viel Power entwickle. «Lasst die Hölle auf den Gegner niederfahren», ruft der Trainer, während die Teilnehmer mit geballten Fäusten auf Pratzen einschlagen.
Frage an drei Absolventen und eine der beiden Absolventinnen des Fortgeschrittenenkurses, ob sie schon einmal gezwungen gewesen seien, das Gelernte anzuwenden. Alle verneinen. Ein älterer Herr erzählt, er achte jetzt viel aufmerksamer auf potenzielle Gefahren, wenn er abends mit dem Hund spazieren gehe.
Dass er in einer realen Situation physische Gewalt hätte anwenden müssen, hat auch Wanner seit vielen Jahren nicht mehr erlebt. Er erzählt, wie ihn ein Reinigungsarbeiter wenige Tage zuvor bei einer Tankstelle extrem laut und aggressiv angegangen habe, weil er, Wanner, mit seinem Auto angeblich am falschen Ort durchgefahren sei. «Es hat eine Zeit gegeben, da hätte ich mich getriggert gefühlt, ‹hey, so redest du nicht mit mir!›, und dann hätte ich mich vielleicht auf eine Konfrontation eingelassen.» Stattdessen habe er dem Mann einen schönen Tag gewünscht und sei weitergefahren.
Als er vor mehr als zwei Jahrzehnten mit Selbstverteidigungstraining begann, habe er jedoch testen wollen, wie viel vom Gelernten funktioniere, wenn es ernst werde. «Mein Labor war ein Job als Türsteher, sechs Jahre, in denen ich viele Konflikte verbal gelöst und einige Dutzend Male Gewalt erlebt habe. Und ja, es hat funktioniert.»
Eine absolute Garantie gibt es nicht
Wanner, der später Kommunikationswissenschaft studiert hat, gebraucht Ausdrücke wie «Bedrohungsmanagement», «toxisch-destruktive Tendenz», «der Körper als Konfliktlösungsmittel». Entscheidend sei nicht das Physische, sondern die mentale Bereitschaft, die erlernten Techniken als letztes Mittel einzusetzen. Also den Angreifer sofort auszuschalten, notfalls auch, ihn zu verletzen. «Ein bisschen Gewalt, das geht in solchen Situationen nicht.»
Würden die Selbstverteidigungstechniken auch draussen in der rauen Realität funktionieren? Wanner und die Frauentrainerin Jeannette Vögeli antworten, das Erlernte erhöhe die Wahrscheinlichkeit, unbeschadet aus einer bedrohlichen Situation herauszukommen. Aber eine Garantie gebe es nicht.
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