Gastbeitrag zur Gewalt im AlltagFehlender Anstand ist das Problem
Die Gewaltkriminalität in der Schweiz nimmt zu. Den Jungen kommen zusehends Werte, Normen und Vorbilder abhanden.
![[SYMBOLBILD Jugendkriminialtaet / Gestellte Szene] Ein am Boden liegender Jugendlicher wird von einer Gruppe Jugendlicher getreten, fotografiert am 15. Oktober 2022. (KESTONE/Christof Schuerpf) [SYMBOLBILD Jugendkriminialtaet / Gestellte Szene] Ein am Boden liegender Jugendlicher wird von einer Gruppe Jugendlicher getreten, fotografiert am 15. Oktober 2022. (KESTONE/Christof Schuerpf)](https://cdn.unitycms.io/images/00koJXHjKwD89AND6s_dXz.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=0zTQRpKShmo)
Was vor wenigen Jahren noch undenkbar erschien, droht nun zur Normalität zu werden: die Alltäglichkeit der Gewalt. Seit einigen Jahren ist auch die Zahl der minderjährigen Straftäter stark gestiegen.
Was ist das bloss? Und wie lässt es sich erklären? Beobachten lässt sich seit einigen Jahrzehnten ein zunehmender Zerfall von Traditionen und Normen aus zwei Richtungen: einmal von oben und einmal von unten. Übersetzt: Der Staat und die Autoritäten haben sich verändert, und wir Bürgerinnen und Bürger verhalten uns anders.
Die Erosion von Verhaltensmustern, die früher das menschliche Zusammenleben strukturiert haben, schreitet voran: Respekt, Rücksichtnahme, Höflichkeit, Zivilcourage – alles Tugenden, ohne die gesellschaftliches Leben zerbröselt. Das sollte in der Erziehung auch so vermittelt werden. Eine ihrer wichtigsten Lerninhalte ist, dass es ausser uns noch andere Menschen gibt. Wir lernen, dass auch diese anderen Menschen ihre berechtigten Bedürfnisse haben und dass wir diese Bedürfnisse so respektieren müssen wie die anderen Menschen die unsrigen. Geregelt wird dieser Austausch von Normen und Werten, Regeln und Gesetzen.
In seinem soziologischen Klassiker «Die einsame Masse» unterscheidet David Riesman den traditionsgeleiteten, innengeleiteten und aussengeleiteten Menschen. Der innengeleitete Mensch wird auf Werte, Prinzipien und Ziele festgelegt, die in einem hohen Masse verinnerlicht werden und unser Verhalten lebenslang steuern. In der modernen Konsumgesellschaft ist Innenleitung nicht mehr gefragt; angesagt ist der «aussengeleitete Mensch», der jederzeit in der Lage ist, sich an Trends, Moden und an dem, was jeweils «in» ist, zu orientieren. Eingestellt ist er auf häufige Programmwechsel. Keine Prinzipien mehr, keine verbindliche Moral. «Innen-geleitet» hatte immer den anderen Menschen mitgedacht. «Aussen-geleitet» bedeutet hingegen Egoismus und Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen. Ich, nur ich, und kein Wir mehr.
Zu viel Empathie für die Täter
Zudem reagiert der Staat nicht mehr wie früher mit Deutlichkeit und gebotener Härte. Empathie, Verständnis und Nachgiebigkeit, Abschaffung von Schulnoten, Humanisierung des Strafvollzugs, Gender-Mainstreaming und Sondersettings für Straftäter sind an der Tagesordnung. Heutzutage können mehr als 55 Prozent der Täter damit rechnen, für ihre Tat nicht belangt zu werden. Diebstähle und Einbrüche werden kaum noch aufgeklärt. So unterminiert der Staat nach und nach sein Gewaltmonopol.
Und es fehlen die Wegweiser und Vorbilder von oben: Wenn ein amerikanischer Ex-Präsident als Verbrecher entlarvt wird oder ehemalige Regierungschefs in Europa als von Putin gekauft, warum sollten sich dann die kleine Frau und der kleine Mann noch an die Gesetze halten?
Romano Guardini, italienisch-deutscher Theologe und Kulturphilosoph, hat vor einigen Jahrzehnten in seiner Tugendlehre notiert: «Echte Höflichkeit ist Ausdruck von Achtung vor der menschlichen Person. Sie macht, dass die Vielen, die im engen Raum des Lebens einander beständig begegnen, es tun können, ohne sich wechselseitig zu verletzen.»
Walter Hollstein ist Soziologe; er hatte Professuren in Berlin und Bremen inne.
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